82 Verfassungsgeschichte. 11
in ganz anderer Weise tat, als man vorher erwarten konnte, einen fertigen Verfassungsentwurf
vor, der zwar ihre Forderungen nicht befriedigte, mit dem sie sich aber zunächst abzufinden hatte.
Unter dem Druck der Zeitverhältnisse legte der Senat schon am 22. März den Entwurf den Bürger-
kollegien zur Annahme vorz auch diese stimmten mit einer geringen Modifikation zu. Am 8. April
1848 ward die Verfassung zum Gesetz erhoben (V. 1848, S. 23 f.).
Diese erste Verfassung Lübecks vom 8. April 1848 setzte an die Stelle der
bürgerlichen Kollegien eine einheitliche aus 120 Mitgliedern bestehende Bürgerschaft; die Ver-
treter wurden gewählt in 5 ständischen Wahlklassen; die Gelehrten wählten 12, die Kaufleute 40,
die Gewerbetreibenden 40, die Krämer 12, die Landleute 16 Vertreter. Die Neuordnung der
Zusammensetzung des Rates, die eng mit einer Neugestaltung der Gerichtsverfassung zusammen-
hing, blieb einstweilen vorbehalten. Der Erwerb des Bürgerrechts wurde entsprechend der Aus-
dehnung auf die Gebietsbewohner neu geordnet 1), dabei blieben Arbeiter, Gewerbegehilfen,
kleine Landwirte und Handwerker ausgeschlossen, sie konnten nur das „Einwohnerrecht“ ohne
politische Berechtigung erwerben.
Diese Zurücksetzung der „Einwohner“ führte schon bald zu einer Revision der Ver-
fassung; auf ihr Drängen wurde eine neue gemeinschaftliche Kommission eingesetzt, deren
Vorschlag dahin ging, unter Aufhebung des Unterschiedes zwischen Bürgern und Einwohnern
aus den letzteren teils eine neue Wahlklasse der städtischen Einwohner zu bilden, zum andern Teil
sie der Klasse der Landleute zuzuweisen. Der Vorschlag fand bei den Einwohnern wenig Bei-
fall. Auch der Senat verwarf ihn und schlug unter Aufhebung des Unterschiedes zwischen Bür-
gern und Einwohnern die Einführung des allgemeinen gleichen Wahlrechts zur Bürgerschaft vor.
Nachdem die Bürgerschaft zunächst zwar der Erteilung des Bürgerrechts an die Einwohner zu-
gestimmt, sich aber für Beibehaltung der ständischen Vertretung ausgesprochen hatte, trat sie bei
der endgültigen Abstimmung am 9. Oktober 1848 dem durch ein Sondergutachten Dr. Th. Behns
modifizierten Senatsvorschlag bei ). Am 30. Dezember 1848 erfolgte die Einführung
dieser neuen Verfassung, die an die Stelle des Wahlrechts nach Ständen das all-
gemeine gleiche Wahlrecht auf Grund des erweiterten Bürgerrechts einführte.
Der Abschluß dieses Verfassungswerkes erfolgte dann nach Durchführung der bereits 1848
vorgesehenen Umgestaltung des Gerichtswesens und der damit zusammenhängenden Abände-
rung der Zusammensetzung des Senats; mit diesen Abänderungen wurde die Verfassung
am 29. Dezember 1851 neu publiziert ; in dieser Form blieb sie auf Jahrzehnte
hinaus die Grundlage des Staatswesens.
Bei dem Vergleich dieser Verfassungsentwicklung treten
Unterschiede hervor, welche für den gesamten Charakter der Ver-
fassungen von grundlegender Bedeutung sind. Die bremische Ver-
fassung hat ihren Ursprung in der Revolutionszeit von 1848. Die erste Verfassung
von 1849 brach völlig mit der alten Ueberlieferung und stellte den Staat auf ganz
neue Grundlagen. Die alte Stadtrepublik ging auf in dem neugeordneten Staat.
Die Verfassung von 1854 beseitigte zwar das Prinzip der Volkssouveränität, den
demokratischen Grundzug der Verfassung, griff aber auch nicht auf den alten Staat
zurück, sondern ließ es bei der Neuordnung des Ganzen bewenden.
Aehnlich, wenn auch von den früheren Grundlagen in den Rezessen von 1710
und 1712 sich nicht so weit entfernend, brachte die Hamburger Verfassung
von 1860 eine Neukonstituierung des gesamten Staatswesens 3). Auch sie hat ihren
Ursprung in der Bewegung von 1848; diese zeitigte zunächst den radikalen Entwurf
der Konstituante vom 11. Juli 1849; an ihn schloß sich, die radikalen Auswüchse zu-
rückdrängend, der Entwurf der Neunerkommission — die nicht ins Leben getretene
1) Lüb. V. v. 8. April 1848, S. 71.
2) Das Sondergutachten Behns abgedruckt bei Fehling a. a. O. S. 185 f. Daß Behns
Eintreten für das allgemeine gleiche Wahlrecht weniger aus Ueberzeugung als den „obwalten-
den Verhältnissen“ Rechnung tragend geschah, führt Fehling S. 78 f. aus.
3) Ueber die Entwicklung der Hamburger Verfassung: v. Melle, Das Hamb. Staatsrecht
&* 2; G. Seelig, Entwicklung der Hamb. Bürgerschaft, S. 119 ff.