56 Die Organisation des Staates. 8 19
Ein vorzeitiges Ende erreicht die Mitgliedschaft ferner in Bremen bei Eintritt
eines Verhältnisses, das der Wählbarkeit entgegengestanden haben würde, also z. B.
Konkurseröffnung, Nichtzahlung von Steuern wegen Unvermögens ufw. 1). In
Lübeck ist bei Eintritt eines solchen Verhältnisses — mit Ausnahme der Nichterfüllung
der für die Wahlberechtigung erforderlichen Steuerleistung — das Mitglied zum Aus-
tritt aus der Bürgerschaft verpflichtet, ebenso auch bei Aufgabe seines Wohnsitzes
im Staatsgebiet 2).
5l# 19. Rechtsstellung der Bürgerschaft. Nach dem obersten Verfassungsgrund-
satze von der gemeinschaftlichen Ausübung der Staatsgewalt durch Senat und Bür-
gerschaft, steht die Bürgerschaft dem Senat als Mitsouverän zur Seite (oben §& 5 II).
Durch diese ihre anders geartete Stellung und den weiteren Umfang ihrer Befug-
nisse unterscheidet sie sich von den Landtagen in den deutschen monarchischen Staaten.
Im übrigen hat sie wie diese die Aufgabe einer Volksvertretung im po-
litischen Sinneg sie soll den Willen des Volkes im Staatsleben zum Aus-
druck bringen; in diesem Sinne bezeichnen beide Verfassungen ihre Mitglieder als
„Vertreter“. Sie ist ferner wie jene ein unmittelbares Staatsorgan,
dessen Befugnisse sich aus der Verfassung selbst ergeben, und ein unselbstän-
diges Staatsorgann: ihr Wille allein ist nie der Staatswille; ihre Befug-
nisse erschöpfen sich in dem gemeinsamen Wirkungskreis mit dem Senat, über den
unten § 23 zu handeln ist.
Nur einige formelle Befugnisse, deren Wirkung sich über das Innere
des Organismus nicht hinaus erstreckt, stehen ihr allein zu:
1. Die Bürgerschaft hat das Interpellationsrecht: sie kann vom
Senat Auskunft in allen Staatsangelegenheiten verlangen. Nach der Lüb. Verf.
(Art. 45) sind dabei dem Senat die Gegenstände, über die Auskunft verlangt wird,
schriftlich mitzuteilen; der Senat kann die Auskunft schriftlich oder durch Kommissare
mündlich erteilen; über schwebende Verhandlungen in Reichs= und auswärtigen
Angelegenheiten ist er zur Auskunft nicht verpflichtet ). In Bremen erwähnt die
Verfassung das Interpellationsrecht der Bürgerschaft nicht ausdrücklich, es ergibt
sich aber aus der verfassungsmäßigen Aufgabe der Bürgerschaft, auf „Aufrechterhal-
tung der Verfassung, der Gesetze und Staatseinrichtungen zu halten“ und auf ihre
zeitgemäße Entwicklung hinzuwirken (Verf. § 64) 5); auch hier kann der Senat aus
Gründen der Politik die Auskunft verweigern. Ein Recht, von andern Behörden direkt
Berichte oder Auskünfte zu verlangen, hat die Bürgerschaft nicht; sie ersucht den Senat,
einen Bericht der Deputation usw. zu veranlassen.
"14) Brem. Ges. die Bürg. betr. 3 14. In Zweifelsfällen entscheidet das Bürgeramt (Gesch.O.
1n 2 Lüb. Verf. Art. 26, Abs. 4. Ueber die Frage, ob ein Vertreter seine Wählbarkeit verloren
hat, entscheiden die vereinigten Geschäftsvorstände der Bürgerschaft und des Bürgerausschusses;
bejahen sie die Frage, so wird es einer Austrittserklärung nicht mehr bedürfen.
3) Ueber die Bedeutung des Begriffes der Volksvertretung: Laband, StR.“, Bd. I, S.
296 f.; Jellinek, Staatslehre?, S. 882f.
4) Die Bestimmung der Lüb. Verf. ist bei der Revision v. 1875 aufgenommen und dem Art. 65
der Hamb. Verf. wörtlich nachgebildet. Ueber diesen: Westphal, Ein hamb. Verantwortlich-
keitsgesetz, Annalen 1910, S. 25, der mit Recht hervorhebt, daß die Bedeutung des Rechts durch
die Befugnis des Senats, die Auskunft schriftlich zu erteilen, abgeschwächt wird.
5) Die Brem. Verf. v. 1849 gab in §+ 124 der Bürg. ausdrücklich das Interpellationsrecht;
bei der Revision strich man die Bestimmung als selbstverständlich (Verh. 1852, S. 370).