02 Zweites Buch.
mannigfacher Weise anwendet, als daß er sich leicht definieren
ließe. Das Prestige verträgt gewisse Gefühle, wie Bewunde-
rung oder Furcht, es beruht sogar auf ihnen, kann aber sehr
wohl ohne sie bestehen. Am meisten Prestige haben die Toten,
also Wesen, die wir nicht fürchten, wie Alexander, Cäsar,
Mohammed, Buddha. Anderseits gibt es Wesen oder Gebilde,
die wir nicht bewundern, z. B. die gräßlichen Gottheiten der
unterirdischen Tempel Indiens, die uns aber mit einem großen
Prestige behaftet erscheinen.
Das Prestige ist in Wahrheit eine Art Herrschaft, die ein
Individuum, ein Werk oder eine Idee über uns übt. Sie lähmt
all unsere Fähigkeit zur Kritik und erfüllt unsere Seele mit
Staunen und Achtung. Wie jedes Gefühl ist auch das hier auf-
tretende unbeschreibbar, es dürfte aber derselben Art sein wie
die Faszination bei einem Hypnotisierten. Das Prestige ist
die mächtigste Quelle aller Herrschaft; ohne diese hätten die
Götter, die Könige, die Frauen niemals herrschen können.
Die verschiedenen Arten des Prestige lassen sich auf zwei
Grundformen zurückführen: das erworbene und das persön-
liche Prestige. Das erstere ist jenes, das Name, Reichtum,
Ansehen verleihen; es kann vom persönlichen Prestige unab-
hängig sein. Das letztere ist im Gegenteil etwas Individuelles,
was mit Ansehen, Ruhm, Reichtum zusammen bestehen oder
durch sie verstärkt werden, aber auch sehr wohl ohne sie
bestehen kann.
Das erworbene oder künstliche Prestige ist bei weiten am
verbreitetsten. Die bloße Tatsache, daß jemand eine gewisse
Stellung einnimmt, ein gewisses Vermögen besitzt, gewisse
Titel führt, verleiht ihm ein Prestige, so gering‘ auch sein persön-
licher Wert sein mag. Ein Soldat in Uniform, ein Beamter in
der roten Robe hat immer ein Prestige. Pascal hat die Not-
wendigkeit von Talar und Perücke für die Richter treffend
bemerkt; ohne sie würden sie dreiviertel ihrer Autorität ein-
büßen. Der grimmigste Sozialist wird stets durch den Anblick
eines Fürsten oder Marquis bewegt, und man braucht nur einen