04 Zweites Buch.
sind, und daß es alle unsere Urteile paralysiert. Die Massen
haben stets, die Individuen sehr oft das Bedürfnis völlig fertiger
Anschauungen betrefis jedes Gegenstandes. Der Erfolg dieser
Anschauungen ist unabhängig von dem Wahrheits- oder dem
Irrtumsbestandteil, den sie enthalten, er hängt einzig und allein
von ihrem Prestige ab.
Ich komme nun zu dem persönlichen Prestige. Es hat
eine ganz andere Beschaffenheit als das künstliche oder er-
worbene Prestige, mit. dem wir es zu tun hatten. Es ist
eine von allem Titel, aller Autorität unabhängige Eigenschaft,
die nur wenige Personen besitzen, vermöge deren sie einen
wahrhaft magnetischen Zauber auf ihre Umgebung auszuüben
vermögen, auch wenn dieselbe aus sozial Gleichgestellten be- .
steht, die sich von ihnen in keiner Weise beherrschen lassen.
Sie flößen ihnen ihre Gedanken und Gefühle ein, und man ge-
horcht ihnen, wie das wilde Tier dem Bändiger gehorcht, den
es doch so leicht verschlingen könnte. Die großen Führer
der Massen, wie Buddha, Jesus, Mohammed, Jeanne d’Arc,
Napoleon, haben diese Art des Prestige in hohem Maße be-
sessen und haben sich besonders durch dieses zur Geltung
gebracht. Götter, Heroen und Dogmen setzen sich durch, ohne
Gegenstand der Diskussion zu sein; sobald sie dies werden,
büßen sie ihre Macht ein.
Die von mir angeführten großen Persönlichkeiten besaßen
ihre Faszinationsgewalt schon ehe sie berühmt waren und
wären ohne sie nicht berühmt geworden. Es ist z. B. klar, daß
Napoleon auf dem Gipfel seiner Macht schon durch seine bloße
Macht ein ungeheures Prestige besaß, aber es eignete ihm
schon zum Teile in der Zeit, da er noch keinerlei Gewalt hatte
und völlig unbekannt war. Als er, ein unbekannter General,
durch Protektion zum Befehlshaber der italienischen Armee
ernannt worden war, geriet er in die Mitte ihm unfreundlicher
Generäle, die sich anschickten, dem ihnen vom Direktorium auf-
gezwungenen jungen Eindringling einen abstoßenden Empfang
zu bereiten. Aber von der ersten Minute, von der ersten Be-