Anschauungen und Überzeugungen der Massen. 97
ohne Blutvergießen die gesamte Machtorganisation des von
seinem legitimen König beherrschten Frankreich umzustoßen;
hat die persönliche Gewalt eines Menschen sich je wunder-
barer bekundet? Wie erstaunlich ist aber die Gewalt, die
er von Anfang bis zum Ende dieser seiner letzten Kampagne
auch über die Alliierten, die er seiner Initiative zu folgen zwang,
ausübte, und wieviel fehlte, so hätte er sie zerschmettert!“
Sein Prestige überlebte ihn und wuchs noch mehr. Es
machte aus seinem unbekannten Neffen einen Kaiser. An-
gesichts der heutigen Erneuerung seiner Legende sieht man,
wie mächtig dieser große Schatten noch ist. Mißhandelt die
Menschen, so viel ihr wollt, schlachtet sie millionenweise ab,
macht eine Invasion nach der anderen, alles ist euch gestattet,
wenn ihr ein genügendes Maß von Prestige und das zu dessen
Aufrechterhaltung nötige Talent besitzt.
Ich habe hier sicherlich ein ganz exzeptionelles Beispiel des
Prestige herangezogen, das aber dienlich war, um das Werden
der großen Religionen, Lehren und Reiche verständlich zu
machen. Dieses Werden ist ohne die Macht des Prestige über
die Masse unverständlich.
Aber das Prestige gründet sich nicht bloß auf das persön-
liche Ansehen, den militärischen Ruhm und die religiöse Furcht,
es kann einen bescheidenen Ursprung haben und doch noch
beträchtlich sein. Das 19. Jahrhundert kann uns dafür mehrere
Beispiele liefern. Ein sehr prägnantes Beispiel, woran die Nach-
welt in verschiedenen Zeiten erinnert wird, gibt die Geschichte
des berühmten Mannes, der das Antlitz der Erde und die
Handelsbeziehungen der Völker änderte, indem er zwei Erd-
teile voneinander schied. Sein Unternehmen gelang ihm dank
seinem ungeheuren Willen, aber auch dank dem Zauber, den er
auf seine ganze Umgebung ausübte. Um die einmütige Gegner-
schaft, die er vorfand, zu besiegen, brauchte er sich nur zu
zeigen. Er sprach eine Weile, und die Gegner wurden durch
den von ihm ausgehenden Reiz zu seinen Anhängern. Die
Engländer bekämpften sein Projekt besonders wütend; er
Le Bon, Psychologie der Massen. 7