102 Zweites Buch.
und wechseln wie diese. Es sind die Wellen, die auf der Ober-
fläche eines tiefen Sees unaufhörlich kommen und gehen.
Die Zahl der allgemeinen Grundideen ist nicht groß. Ihr
Entstehen und Vergehen bildet die Höhepunkte in der Ge-
schichte jener historischen Rasse. Sie bilden das eigentliche
Gerüst der Zivilisationen.
Eine flüchtige Anschauung in die Massenseele zu ver-
pflanzen, ist sehr leicht, sehr schwer aber ist dies bei einer
dauernden Überzeugung der Fall. Ebenso schwer ist es, die
letztere zu zerstören, wenn sie einmal befestigt ist. Oft ist sie
nur um den Preis gewaltiger Revolutionen zu ändern. Ja, die
Revolutionen haben diese Macht nur, wenn die Überzeugung
fast ihre ganze Herrschaft über die Seelen eingebüßt hat. Die
Revolutionen dienen dann zur endgültigen Ablegung dessen,
was schon ziemlich aufgegeben, aber durch das Joch der Ge-
wohnheit noch nicht gänzlich außer Geltung gekommen war.
Die beginnenden Revolutionen sind in Wahrheit verschwindende
Überzeugungen.
Der Tag, an dem eine Grundidee zu schwinden bestimmt
ist, ist leicht zu erkennen, es ist derjenige, an dem ihr Wert
diskutiert zu werden beginnt. Da jede Gesamtüberzeugung
nur eine Fiktion ist, so kann sie nur bestehen, wenn sie keiner
Prüfung unterzogen wird.
Selbst nach der starken Erschütterung eines Glaubens be-
wahren die aus ihm abgeleiteten Institutionen ihre Macht und
erlöschen nur langsam. Hat er schließlich ihre ganze Gewalt
eingebüßt, dann bricht alles von ihm Gestützte bald zusammen.
Es war noch keinem Volke gegeben, seine Überzeugungen
ändern zu können, ohne dazu verurteilt zu sein, alle Elemente
seiner Kultur abzuändern.
Es modifiziert sie so lange, bis es eine neue geltende Ge-
samtüberzeugung erworben hat, und bis dahin lebt es not-
gedrungen in Anarchie. Die Gesamtüberzeugungen sind die
notwendigen Stützen der Kultur, sie geben den Ideen die Orien-
tierung. Sie allein erwecken Glauben und begründen die Pflicht.