Anschauungen und Überzeugungen der Massen. 103
Stets haben die Völker den Nutzen allgemeiner Überzeu-
gungen empfunden und instinktiv erfaßt, daß das Hinschwinden
derselben die Stunde des Niederganges für sie bedeuten würde.
Der fanatische Kultus Roms bedeutete für die Römer den
Glauben, der sie zu Herren der Welt machte, und als dieser
Glaube erstorben war, da mußte Rom sterben. Erst als die
Barbaren, welche die römische Zivilisation zerstörten, einige
Gesamtüberzeugungen erlangt hatten, bekamen sie einen ge-
wissen Zusammenhalt und konnten aus der Anarchie heraus-
kommen.
Nicht ohne Grund also haben die Völker stets ihre Über-
zeugungen intolerant verfochten. Diese Intoleranz, die vom
philosophischen Standpunkte aus so tadelbar ist, stellt die not-
wendigste Tugend -im Völkerleben dar. Um Gesamtüberzeu-
gungen zu begründen oder aufrechtzuerhalten, hat das Mittel-
alter so viele Scheiterhaufen errichtet und sind so viele Erfinder
und Neuerer verzweifelt gestorben, wenn sie der Folter ent-
gingen. Um solche Überzeugungen zu verteidigen, sind so
viele Menschen auf den Schlachtfeldern gestorben und werden
dort noch sterben.
Die Begründung einer Gesamtüberzeugung ist sehr schwie-
rig, aber‘in der Folge ist ihre Macht lange Zeit unüberwindlich,
und mag sie auch philosophisch einen Irrtum bedeuten, sie
drängt sich auch den erleuchtetsten Geistern auf. Haben nicht
die Völker Europas mehr als 15 Jahrhunderte lang religiöse
Legenden, die bei näherer Betrachtung ebenso barbarisch!) wie
der Moloch-Mythus sind, als unbestreitbare Wahrheiten be-
trachtet? Die entsetzliche Unsinnigkeit des Mythus von einem
Gotte, der sich für den Ungehorsam eines seiner Geschöpfe
an seinem Sohne mittels furchtbarer Marter rächt, ıst viele
Jahrhunderte lang nicht bemerkt worden. Die gewaltigsten
!) Barbarisch im philosophischen Sinne, wohlverstanden. In der
Praxis haben sie eine ganz neue Kultur begründet und 15 Jahrhunderte
lang dem Menschen jene Traumes- und Hoffnungsparadiese sehen
lassen, die er nicht mehr kennen wird.