Anschauungen und Überzeugungen der Massen. 109
öffentlichen Meinung und ihrer beständigen Schwankungen ist.
Zu einem bloßen Informationswerkzeug geworden, hat sie
darauf verzichtet, irgend welche Ideen oder Lehren zu pro-
pagieren. Sie geht allen Veränderungen des öffentlichen Geistes
nach, und sie muß dies genau tun, da sie sonst infolge der
Konkurrenz ihre Leser verlieren kann. Die alten würdigen und
einflußreichen Organe von ehemals, „Constitutionel‘‘, „Debats‘‘,
„Siecle“, deren Aussprüche von der vergangenen Generation
ehrfurchtsvoll angehört wurden, sind verschwunden oder zu
Informationsorganen geworden, die von einer Chronique amu-
sante, dem Gesellschaftsklatsch und von finanziellen Reklamen
umrahmt sind. Welches Blatt wäre heute reich genug, seinen
Redakteuren eigene Meinungen gestatten zu können, und wel-
ches Gewicht könnten diese Meinungen bei Lesern haben, die
nur unterrichtet oder unterhalten werden wollen und die hinter
jeder Empfehlung eine Spekulation wittern? Die Kritik hat
nicht einmal mehr die Macht, ein Buch oder ein Theaterstück zu
„tanzieren‘. Sie kann ihnen schaden, aber nicht nützen. So
sehr sind sich die Blätter der Zwecklosigkeit aller Kritik und
Eigenmeinung bewußt, daß sie allmählich die literarischen Kri-
tiken unterdrückt haben, indem sie sich begnügen, den Titel
des Buches nebst zwei bis drei Reklamezeilen zu bringen, und
so wird es sich wohl in zwanzig Jahren auch mit dem Theater
verhalten.
Das Erlauern der Meinung ist heute die hauptsächliche
Sorge der Presse und der Regierungen. Welche Wirkung ein
Ereignis, ein Gesetzentwurf, eine Rede hat, das ist’s, was sie
stets wissen müssen; und das ist nicht so leicht, denn nichts
ist wandelbarer und schillernder als das Denken der Massen,
und nichts ist häufiger, als daß sie eben dasselbe, was sie den
Tag vorher bejubelten, morgen mit dem Anathema belegen.
Dieser völlige Mangel an Meinungsdirektive und gleich-
zeitig die Auflösung der Gesamtüberzeugungen haben als End-
ergebnis eine vollständige Zerbröckelung aller Überzeugungen
und dazu die wachsende Indifferenz der Massen gegenüber