110 Drittes Buch.
halte diese falsche Bezeichnung nur bei, weil sie durch neuere
psychologische Forschungen üblich geworden ist. Gewisse Hand-
lungen der Massen sind, an sich betrachtet, gewiß verbreche-
risch, aber auch nur in dem Sinne, wie die Tat eines Tigers,
der einen Hindu verschlingt, nachdem er ihn vorerst durch
seine Jungen zu deren Unterhaltung hat zerfleischen lassen.
Die Massenverbrechen haben in der Regel eine mächtige
Suggestion zum Beweggrund, und die schuldigen Individuen
sind in der Folge davon durchdrungen, sie hätten eine Pflicht
erfüllt — ein Umstand, der bei dem gewöhnlichen Verbrecher
fehlt.
Dies wird durch die Geschichte der von den Massen be-
gangenen Verbrechen bezeugt.
Als typisches Beispiel wäre die Ermordung des Gouver-
neurs der Bastille, de Launay, anzuführen. Nach dem Falle
dieser Festung empfing der von einer äußerst erregten Menge
umgebene Gouverneur von allen Seiten Hiebe. Man schlug vor,
ihn zu hängen, zu enthaupten oder an den Schweif eines Pferdes
zu binden. Sich losmachend, gab er einem der Umstehenden
versehentlich einen Fußtritt. Darauf machte jemand den von
der Masse sogleich beifällig aufgenommenen Vorschlag, das
von dem Fußtritt betroffene Individuum solle dem Gouverneur
den Hals abschneiden.
„Dieser, ein stellenloser Koch, der nach der Bastille ge-
gangen war, um zu sehen, was dort vorging, glaubt, die Tat
sei patriotisch, weil dies die allgemeine Ansicht ist, und glaubt
sogar, einen Orden zu verdienen, wenn er ein Ungeheuer ver-
nichtet. Mit einem ihm dargereichten Säbel schlägt er auf den
entblößten Hals; da der schlecht geschliffene Säbel nicht schnei-
det, zieht er aus seiner Tasche ein kleines Messer mit einem
schwarzen Heft und vollendet, da er als Koch das Fleisch zu
bearbeiten weiß, erfolgreich seine Operation.‘“
Hier zeigt sich klar der früher angegebene Mechanismus:
Gehorsam gegenüber einer Suggestion, die um so stärker ist,
als sie kollektiv ist, Überzeugung des Mörders, eine sehr ver-