Klassifikation und Einteilung der Massen. 145
alles verwirrt sie. Zitternd, furchtsam, unverzagt, heroisch zu-
gleich, werden sie sich in die Flammen stürzen und vor einem
Schatten zurückweichen. Die Wirkungen und Beziehungen der
Dinge sind ihnen unbekannt. Ebenso schnell entmutigt wie
erregt, allen Paniken unterworfen, stets zu hoch oder zu niedrig,
niemals mit dem nötigen Grade und Maße. Beweglicher als
das Wasser, reflektieren sie alle Farben und nehmen sie alle
Formen an. Welche Basis für die Regierung kann man bei
ihnen erhoffen ?“
Zum Glück äußern sich die von uns geschilderten Eigen-
schaften keineswegs ständig. Die Parlamentsversammlungen
sind nur in bestimmten Momenten Massen. In vielen Fällen
bewahren die ihnen angehörenden Individuen ihre Individuali-
tät. Daher kann denn auch eine Versammlung vorzügliche,
sachgemäße Gesetze ausarbeiten. Allerdings haben dieselben
einen Fachmann zum Urheber; der sie im stillen Arbeitszimmer
vorbereitet hat, und das abgestimmte Gesetz ist in Wahrheit
das Werk eines Individuums, nicht einer Versammlung. Natür-
lich sind das die besten Gesetze. Unheilvoll werden sie nur,
wenn sie durch eine Reihe von Amendements kollektiv werden.
Das Werk einer Masse ist stets und überall geringwertiger als
das eines isolierten Individuums. Es sind die Fachmänner, die
die Versammlungen vor allzu sinnlosen, unerfahrenen Maß-
nahmen bewahren. Der Fachmann ist dann momentan ein
Führer; die Versammlung wirkt nicht aufihn, sondern er auf sie.
Trotz aller Schwierigkeiten ihrer Funktion stellen die Parla-
mentsversammlungen noch das Beste dar, was die Völker zu
ihrer Regierung und namentlich zur möglichsten Befreiung vom
Joche persönlicher Tyrannei herausgefunden haben. Sie sind
sicher das Ideal einer Regierung, wenigstens für Philosophen,
Denker, Schriftsteller, Künstler und Gelehrte, kurz für alles,
was den Gipfel der Kultur darstellt.
Übrigens bringen sie nur zwei ernstliche Gefahren mit
sich: erstens die Verschwendung der Finanzen, zweitens die
progressive Beschränkung der individuellen Freiheit.
Le Bon, Psychologie der Massen. 10