6 Einleitung.
die hervorragenden Staatsmänner und, in einer bescheideneren
Sphäre, die einfachen Häupter kleiner menschlicher Gemein-
schaften waren stets unbewußte Psychologen mit einer instink-
tiven und oft sehr sicheren Kenntnis der Massenseele; weil
sie diese gut kannten, wurden sie so leicht die Herren. Napo-
leon erfaßte wunderbar das Seelenleben der Massen des Landes,
das er beherrschte, aber er verkannte oft völlig die Seele der
fremden Rassen angehörenden Massen!), und deshalb unter-
nahm er — in Spanien und in Rußland namentlich — Kriege,
in denen seine Macht StößBe erlitt, durch die sie bald nieder-
gehen sollte.
Die Kenntnis der Massenpsychologie ist heute die letzte
Zuflucht des Staatsmannes, der nicht etwa sie beherrschen
— das ist zu schwierig geworden —, aber wenigstens nicht
zu sehr von ihnen beherrscht werden will.
Nur mittels einer Vertiefung der Massenpsychologie ver-
steht man, wie wenig Einfluß Gesetze und Institutionen auf
die Massen haben, wie unfähig sie zu Meinungen außer jenen,
die ihnen eingeflößt wurden, sind, wie man sie nicht mit
Regeln, welche auf rein theoretischer Billigkeit beruhen, son-
dern nur mittels dessen, was auf sie Eindruck macht und sie
verführt, leitet. Will z. B. ein Gesetzgeber eine neue Steuer
auflegen, soll er da jene, die theoretisch die gerechteste ist,
wählen? Keine Spur. Die ungerechteste kann praktisch für
die Massen die beste sein. Ist sie zugleich die unauffälligste
und als leichteste erscheinende, dann wird sie auf das leich-
teste durchgehen. Auf diese Weise wird eine noch so große
indirekte Steuer allezeit von der Masse angenommen werden,
weil sie, wenn täglich pfennigweise für Konsumartikel ent-
richtet, die Gewohnheiten nicht hindert und beeinflußt. Man
I) Übrigens verstanden sich seine klügsten Ratgeber nicht besser
darauf. Talleyrand schrieb ihm, „Spanien würde seine Soldaten als
Befreier empfangen“. Es empfing sie wie Raubtiere. Ein mit den erb-
lichen Instinkten der Rasse vertrauter Psycholog hätte diesen Empfang
leicht voraussehen können.