Die Ära der Massen. 1
setze an ihre Stelle nur eine den Löhnen oder anderen Ein-
kommen proportionale, auf einmal zu entrichtende Steuer, mag
diese theoretisch auch zehnmal weniger hart als die andere
sein, so wird sie einstimmige Proteste erregen. An Stelle der
-Pfennige eines jeden Tages, die man nicht spürt, tritt"nämlich
eine relativ hohe Geldsumme, welche an dem Zahltage als
riesige und folglich sehr eindrucksvoll erscheinen wird. Sie
würde als gering nur dann erscheinen, wenn sie Pfennig für
Pfennig zur Seite gelegt worden wäre; aber dieses wirtschaft-
liche Gebahren stellt ein Maß von Voraussicht dar, dessen
die Massen unfähig sind.
Dieses Beispiel ist eines der einfachsten, die Richtigkeit
desselben ist leicht einzusehen. Einem Psychologen, wie Na-
poleon es war, ist sie nicht entgangen, aber die Gesetzgeber,
welche die Massenseele nicht kennen, werden sie nicht be-
merken. Die Erfahrung hat ihnen nicht genug dargetan, daß
die Menschen sich niemals nach den Vorschriften der reinen
Vernunft verhalten.
Noch viele andere Anwendungen ließen sich von- der
Massenpsychologie machen. Die Kenntnis derselben wirft das
hellste Licht auf eine große Menge historischer und Ökono-
mischer Erscheinungen, die ohne sie völlig unverständlich
bleiben. Ich werde Gelegenheit haben, zu zeigen, daß, wenn der
hervorragendste moderne Historiker, Taine, die Ereignisse der
eroßen Revolution zuweilen so unvollkommen verstanden hat,
dies darin seinen Grund hat, daß er niemals an die Erforschung
der Massenseele gedacht hat. Er hat sich bei dem Studium
dieser komplizierten Periode der beschreibenden Methode der
Naturwissenschaft bedient; aber unter den Erscheinungen,
welche den Gegenstand der Naturforschung bilden, finden sich
die seelischen Kräfte nicht. Diese aber sind es eigentlich,
welche den wahren Bereich der Geschichte bilden.
Schon im Hinblick auf ihre praktische Seite verdient dem-
nach die Massenpsychologie in Angriff genommen zu werden,
aber auch dann, wenn sie nur ein rein theoretisches Interesse