8 Einleitung.
darböte. Es ist eberiso interessant, die Triebfedern der mensch-
lichen Handlungen aufzudecken, als ein Mineral oder eine
Pflanze zu beschreiben.
Unsere Studie der Massenseele wird nur eine kurze Syn-
these, eine bloße Zusammenfassung unserer Untersuchungen
bieten können. Man darf von ihr nicht mehr als einige an-
regende Gesichtspunkte verlangen. Andere!) werden das Ge-
biet weiter bearbeiten. Heute ist es noch ein jungfräulicher
Boden, den wir beackern?).
1) Die wenigen Autoren, die sich mit dem psychologischen Studium
der Massen abgaben, haben sie, wie gesagt, nur in kriminologischer Hin-
sicht untersucht. Da ich diesem Gegenstande nur ein kurzes Kapitel
dieses Werkes gewidmet habe, so verweise ich den Leser hinsichtlich
dieses Spezialgebietes auf die Arbeiten von Tarde wnd die Schrift von
Sishele: „Die kriminellen Massen“. Letztere Arbeit enthält keinen ein-
zigen originellen Gedanken, gibt aber eine Zusammenstellung von Tat-
sachen, die der Psycholog verwerten kann. Übrigens sind meine Folge-
rungen betrefis der Kriminalität und Moralität der Massen jenen der
von mir genannten Autoren durchaus entgegengesetzt.
In meiner Schrift „Die Psychologie des Sozialismus‘“ findet man
einige Folgerungen aus den die Massenpsychologie beherrschenden Ge-
setzen. Diese Gesetze finden übrigens auf den verschiedensten Gebieten
Anwendung. Der Direktor des Königlichen Konservatoriums in Brüssel,
A. Gevaert, hat von den Gesetzen, die ich in einer musikalischen Ab-
handlung darlegte — er nennt die Musik treffend eine „Massenkunst‘‘ —
eine bemerkenswerte Anwendung gemacht. „Ihre beiden Werke,‘ schrieb
mir dieser ausgezeichnete Lehrer bei Übersendung seiner Arbeit, „haben
mir die Lösung eines von mir früher als unlöslich betrachteten Problems
geboten: die erstaunliche Eignung jeder Masse, ein neues oder altes,
einheimisches oder fremdes, einfaches oder zusammengesetztes Tonstück
zu empfinden, vorausgesetzt, daß es schön gespielt wird und daß die
Musiker einen begeisterten Dirigenten haben.‘ Herr Gevaert zeigt vor-
trefflich, warum „ein Werk, welches von ausgezeichneten Musikern bei
Durchsicht der Partitur in der Einsamkeit ihrer Stube unverstanden blieb,
oft von einem jeder technischen Bildung ermangelnden Auditorium ohne
weiteres erfaßt wird“. Ebensogut zeigt er, weshalb diese ästhetischen
Eindrücke spurlos verlaufen.
2) Vgl. die Schriften von Rossi, Vierkandt, Michels, ©. Stoll,
Simmel, Orano u. a.