VI Vorwort.
werden können, nicht zu sorgen. Ein ausgezeichneter Denker,
Goblet d’Alviela, hat in einer seiner Schriften bemerkt, ich
gehörte keiner zeitgenössischen Richtung an und geriete zu-
weilen in Gegensatz zu gewissen Folgerungen aller dieser
Schulen. Hoffentlich verdient die vorliegende Arbeit das gleiche
Urteil. Zu einer Schule gehören heißt, deren Vorurteile und
Standpunkte annehmen müssen.
Ich muß jedoch dem Leser erklären, warum er mich aus
meinen Studien wird Schlüsse ziehen finden, die von denen
abweichen, welche auf den ersten Anblick daraus resultieren,
indem ich z. B. den außerordentlichen geistigen Tiefistand der
Massen konstatiere und dabei doch behaupte, es sei ungeachtet
dieses Tieistandes gefährlich, die Organisation der Massen an-
zutasten.
Eine aufmerksame Beobachtung der geschichtlichen Tat-
sachen hat mir nämlich stets gezeigt, daß, da die sozialen Or-
ganismen ebenso kompliziert sind wie die anderen Organis-
men, es ganz und gar nicht in unserer Macht steht, sie in
jäher Weise tiefgehenden Umwandlungen zu unterwerfen. Zu-
weilen ist die Natur radikal, aber nicht so, wie wir es ver-
stehen; daher gibt es nichts Traurigeres für ein Volk als die
Manie der großen Reformen, so vortrefflich diese Reformen
theoretisch erscheinen können. Nützlich wären sie nur dann,
wenn es möglich wäre, die Volksseelen plötzlich zu ändern.
Die Zeit allein hat diese Macht. Die Menschen werden von
Ideen, Gefühlen und Gewohnheiten geleitet, von Dingen, die
in uns selbst sind. Die Institutionen und Gesetze sind die
Offenbarung unserer Seele, der Ausdruck ihrer Bedürfnisse.
Von dieser Seele ausgehend, können Institutionen und Gesetze
sie nicht ändern.
Das Studium der sozialen Erscheinungen läßt sich nicht
von dem der Völker, bei denen sie sich vollzogen haben,
trennen. Philosophisch betrachtet, können diese Erscheinungen
einen absoluten Wert haben, praktisch aber sind sie nur von
relativeni Wert.