Die Massenseele. 29
Gips verschmieren ist nützlicher als die Zeit mit der Abfassung
solcher Bücher zu vergeuden. Hätte uns die Vergangenheit
nicht ihre Literaturdenkmäler, ihre Kunst- und Bauwerke hinter-
lassen, wir wüßten nicht das geringste Wahre von ihr. Kennen
wir nur ein einziges wahres Wort betreffis des Lebens der
großen Männer, die in der Menschheit eine hervorragende
Rolle gespielt haben, wie Herkules, Buddha, Jesus oder Mo-
hammed? Höchstwahrscheinlich nicht. Im Grunde hat übrigens
ihr Leben recht wenig Interesse für uns. Was wir kennen
lernen wollen, das sind die großen Männer, wie die Volks-
liegende sie gestaltet hat. Es sind die sagenhaften Heroen,
nicht die wirklichen Helden, die auf die Massenseele Eindruck
gemacht haben.
Leider sind die Legenden, auch wenn sie in Büchern
fixiert sind, nicht von Dauer. Die Phantasie der Massen formt
sie je nach den Zeiten und den Rassen um. Vom grausamen
Jehova der Bibel bis zum Gott der Liebe der heiligen Therese
ist ein großer Schritt, und der in China verehrte Buddha hat
mit dem in Indien angebeteten keinerlei Züge mehr gemein.
Es bedarf nicht des Verfließens von Jahrhunderten, da-
mit die Heroenlegende in der Phantasie der Massen sich um-
bildet; diese Umbildung erfolgt oft innerhalb weniger Jahre.
Wir haben in unseren Tagen gesehen, wie die Legende eines
der größten Helden der Geschichte sich in weniger als fünfzig
Jahren wiederholt verändert hat. Unter den Bourbonen wurde
Napoleon zu einer Art menschenfreundlicher und liberaler,
idyllischer Persönlichkeit, zu einem Freunde der Niedrigen,
die, um mit den Dichtern zu sprechen, sein Andenken in ihrer
Hütte für lange Zeit bewahren mußten. Dreißig Jahre später
war der gutmütige Held zu einem grausamen Despoten ge-
worden, der, nachdem er Macht und Freiheit usurpiert, drei
Millionen Menschen bloß zur Befriedigung seines Ehrgeizes
umkommen ließ. Gegenwärtig wohnen wir einer neuen Um-
formung der Legende bei. Nach einigen Dutzend Jahrhunderten
werden angesichts dieser sich widersprechenden Berichte die