40 Erstes Buch.
Vorschein, und dasselbe Individuum bot so die offenbarsten
Widersprüche dar, Widersprüche mehr scheinbarer als wirk-
licher Art freilich, denn bloß die ererbten Vorstellungen sind
mächtig‘ genug, um beim isolierten Individuum Motive des
Verhaltens zu werden. Nur dann, wenn der Mensch infolge
von Kreuzungen sich unter den Einflüssen verschiedener Erb-
schaften befindet, können seine Handlungen wirklich von einem
Augenblick zum andern sich völlig widersprechen. Es hat
keinen Zweck, hier bei diesen Erscheinungen zu verweilen,
so groß auch ihre psychologische Bedeutung ist. Es ist meiner
Meinung nach zu ihrem Verständnis wenigstens zehnjähriges
Reisen und Beobachten nötig.
Da die Ideen den Massen nur in sehr einfacher Gestalt
zugänglich sind, so müssen sie, um populär zu werden, oft
völlig sich umformen. Besonders bei etwas höheren philo-
sophischen oder wissenschaftlichen Ideen läßt sich dies Maß
von Modifikationen ersehen, deren sie bedürfen, um von Schichte
zu Schichte bis zum Niveau der Massen hinunterzusteigen.
Diese Modifikationen sind abhängig von der Art der Masse
oder von der Rasse, der diese angehört, aber stets bestehen
sie in Verringerungen und Vereinfachungen. Daher gibt es
für den sozialen Gesichtspunkt in Wahrheit keine Hierarchie der
Ideen, d. h. mehr oder weniger hohe Anschauungen. Schon
dadurch, daß eine Idee zu den Massen gelangt und hier zu
wirken vermag, ist sie, mag sie ursprünglich noch so groß und
wahr gewesen sein, beinahe alles dessen beraubt, was ihre
Größe und Erhabenheit ausmacht.
Übrigens ist, vom sozialen Gesichtspunkt betrachtet, der
hierarchische Wert einer Idee bedeutungslos. Was zu beachten
ist, sind die von ihr erzeugten Wirkungen. Die christlichen
Ideen des Mittelalters, die demokratischen Ideen des 18. Jahr-
hunderts, die sozialistischen Ideen der Gegenwart stehen wohl
nicht besonders hoch, man kann sie in philosophischer Be-
ziehung nur als ziemlich armselige Irrtümer betrachten. Und
doch hatten sie eine ungeheure Bedeutung, und noch lange