Die Massenseele. 41
werden sie zu den wesentlichsten Faktoren des Verhaltens der
Staaten zählen.
Auch nach ihren Umformungen, durch die sie den Massen
zugänglich wird, wirkt die Idee erst, wenn sie auf einem noch
zu untersuchenden Wege in das Unbewußte gedrungen und
zu einem Gefühle geworden ist, was stets lange Zeit braucht.
Man darf in der Tat nicht glauben, eine Idee könne bloß
durch den Beweis ihrer Richtigkeit selbst auch nur bei den
Gebildeten ihre Wirkungen erzielen. Wir überzeugen uns
davon, sobald wir sehen, wie wenig Einfluß eine noch so klare
Beweisführung auf die Mehrzahl der Menschen hat. Ein unter-
richteter Zuhörer wird die Evidenz des Beweises, wenn sie am
Tage liegt, anerkennen, aber das Unbewußte in ihm wird ihn
bald zu seinen ursprünglichen Anschauungen zurückbringen.
Nach Verlauf einiger Tage wird er uns seine alten Argumente
mit genau denselben Worten vorbringen. Er befindet sich
tatsächlich unter dem Einflusse älterer Ideen, die gefühlsmäßig
geworden sind; sie sind es, die auf die tiefliegenden Motive
unseres Handelns und Sprechens einwirken. Bei den Massen
kann es sich nicht anders verhalten.
Ist aber eine Idee auf diesem oder jenem Wege endlich
in die Massenseele eingedrungen, dann besitzt sie eine un-
widerstehliche Macht und entfaltet eine ganze Reihe von Wir-
kungen, die man über sich ergehen lassen muß. Die philo-
sophischen Ideen, welche zur französischen Revolution geführt
haben, brauchten fast ein Jahrhundert, um in der Massenseele
Wurzel zu fassen. Ihre unwiderstehliche Gewalt, die sie dann
erlangten, ist bekannt. Der Ansturm eines ganzen Volkes
zur Eroberung der sozialen Gleichheit, zur Verwirklichung
abstrakter Rechte und idealer Freiheiten erschütterte alle Throne
und erregte in der abendländischen Welt einen völligen Um-
sturz. Zwanzig Jahre lang fielen die Völker übereinander her,
und Europa erlebte Hekatomben, vor denen Dschingiskhan und
Tamerlan zurückgeschreckt wären. Nie sah die Welt in solchem
Maße, was die Wirksamkeit einer Idee zu leisten vermag.