Die Massenseele. 43
Schlußkette ist, den Massen gänzlich unbegreiflich, und des-
halb darf man behaupten, daß sie nicht oder falsch schließen
und durch Logik nicht zu beeinflussen sind. Oft staunen wir
bei der Lektüre über die Schwäche gewisser Reden, die gleich-
wohl auf die Massen, vor denen sie gehalten wurden, einen
ungeheuren Eindruck gemacht haben. Aber man vergißt, daß
sie dazu bestimmt waren, Mengen hinzureißen, nicht aber von
Philosophen gelesen zu werden. Der Redner, der mit der Masse
in innigem Kontakte steht, weiß die Bilder hervorzurufen, durch
die sie verführt wird. Gelingt ihm dies, so ist sein Ziel er-
reicht, und zwanzig Bände Reden wiegen die wenigen Phrasen
nicht auf, die in das zu besiegende Gehirn eindrangen.
Es ist überflüssig, zu bemerken, daß die Unfähigkeit der
Massen zum richtigen Schließen sie jeglicher Spur kritischen
Geistes beraubt, so daß sie nicht imstande sind, Wahrheit
und Irrtum zu unterscheiden und irgend etwas scharf zu be-
nrteilen. Die von den Massen angenommenen Urteile sind
nur eingeflößte, niemals geprüfte Urteile. In dieser Beziehung
erheben sich sehr viele Menschen nicht über die Masse. Die
Leichtigkeit, mit der- gewisse Meinungen allgemein werden,
hängt vor allem mit der Unfähigkeit der‘ meisten Menschen
zusammen, sich auf Grund ihrer eigenen Schlüsse eine be-
sondere Meinung zu bilden.
$ 3. Die Einbildungskraft der Massen.
Wie bei allen Wesen, bei denen das logische Denken
nicht ins Spiel kommt, ist die Einbildungskraft der Massen
sehr mächtig, sehr wirksam und lebhaft erregbar. Die durch
eine Person, ein Ereignis, einen Unglücksfall in ‘ihnen aus-
gelösten Vorstellungsbilder besitzen beinahe die Lebhaftigkeit
der wirklichen Gegenstände. Ein wenig gleichen die Massen
dem Schläfer, dessen zeitweilig aufgehobenes Denken in seinem
Bewußtsein Bilder entstehen läßt, die äußerst intensiv sind,
sich aber schnell verflüchtigen würden, könnten sie ins Licht
der Reflexion fallen. Die Massen, die weder der Reflexion