48 Erstes Buch.
Nicht bloß, wenn man eine Gottheit verehrt, ist man
religiös, sondern auch dann, wenn man alle Kräfte des Geistes,
alle Willensergebung, alle Gluten des Fanatismus dem Dienste
einer Kraft oder eines Wesens weiht, welches zum Ziel und
Führer der Gedanken und Handlungen wird.
Zum religiösen Gefühle gehören notwendig Intoleranz und
Fanatismus. Sie sind unausbleiblich bei jenen, welche sich im
Besitze des Geheimnisses des irdischen oder himmlischen Glücks
glauben. Diese beiden Züge finden sich bei allen zu Gruppen
vereinigten Menschen, wenn irgend ein Glaube sie erhebt. Die
Jakobiner der Schreckenstage waren ebenso tief religiös wie die
Katholiken der Inquisition, und ihr grausamer Eifer entiloß der
gleichen Quelle.
Die Überzeugungen der Massen nehmen die dem religiösen
Gefühle eigenen Eigenschaften der blinden Ergebenheit, der
grausamen Intoleranz und des Bedürfnisses nach gewalt-
samer Propaganda an; daher kann man sagen, alle ihre
Glaubensinhalte haben eine religiöse Form. Der Held, dem
die Masse zujubelt, ist für sie in der Tat ein Gott. Napoleon
war es fünfzehn Jahre lang, und nie hat eine Gottheit eifrigere
Anbeter gehabt; auch sandte keine die Menschen leichter in
den Tod. Die Gottheiten des Heidentums und des Christen-
tums übten niemals eine vollkommenere Herrschaft über die
von ihnen gewonnenen Seelen aus.
Alle Stifter eines religiösen oder politischen Glaubens haben
diesen nur ‚dadurch begründet, daß sie es verstanden, den
Massen jene Gefühle des Fanatismus einzuflößen, welche be-
wirken, daß der Mensch sein Glück in der Anbetung und im
Gehorsam findet und gewillt ist, sein Leben für sein Idol zu
lassen. So war es zu allen Zeiten. Fustel de Coulanges be-
merkt in seinem schönen Buche über das römische Gallien, daß
das römische Imperium sich keineswegs durch seine Kraft,
sondern durch die religiöse Bewunderung, die es einflößte,
erhielt. „Es wäre in der Weltgeschichte ohne Beispiel, daß eine
von den Völkern verabscheute Herrschaft fünf Jahrhunderte