Full text: Psychologie der Massen.

56 Zweites Buch. 
verlöscht, hatten die Überlieferungen ihre Herrschaft wieder 
aufgenommen. 
Es gibt kein Beispiel, das die Macht der Überlieferung über 
die Massenseele besser zeigt. Nicht in den Tempeln wohnen 
die furchtbarsten Idole, nicht in den Palästen die despotischsten 
Tyrannen. Sie können in einem Augenblick gestürzt werden; 
aber die unsichtbaren Herren, die in unseren Seelen herrschen, 
entschlüpfen jedem Aufstandsversuch und weichen nur der lang- 
samen Schwächung durch die Jahrhunderte. 
S 3. Die Zeit. 
Einer der kräftigsten Faktoren in den sozialen wie in den 
biologischen Problemen ist die Zeit. Sie ist der einzige große 
Erzeuger und der einzige große Zerstörer. Sie ist es, die die 
Berge aus Sandkörnern gemacht und die winzige Zelle der 
geologischen Urzeit zur menschlichen Würde erhoben hat. Um 
irgend ein Ding zur Umwandlung zu bringen, genügt das Ver- 
streichen der Jahrhunderte. Mit Recht wird gesagt, eine Ameise, 
die genug Zeit hätte, könnte den Montblanc abtragen. Ein 
Wesen, das die magische Gewalt besäße, die Zeit nach Belieben 
wechseln zu lassen, hätte die Macht, welche von den Gläubigen 
Gott zugeschrieben wird. 
Hier haben wir uns aber nur mit dem Einflusse der Zeit 
auf die Entstehung der Anschauungen der Massen zu befassen. 
Ihre Wirksamkeit ist in dieser Hinsicht sehr groß. Abhängig 
von ihr sind die großen Kräfte, wie die der Rasse, die sich 
ohne sie nicht bilden können. Sie läßt alle Glaubensinhalte 
erstehen, wachsen, absterben; sie ist es, die ihnen ihre Macht 
gibt und nimmt. 
  
setzen .. Die große Masse der Menschen braucht eine Religion, 
einen Kultus, Priester. Es ist ein Irrtum moderner Philosophen, dem 
ich selbst verfallen bin, an die Möglichkeit einer Bildung zu glauben, 
die genug verbreitet ist, um die religiösen Vorurteile zu zerstören; 
diese sind für die große Anzahl der Unglücklichen eine Quelle des 
Trostes .. Man muß daher der Masse des Volkes ihre Priester, ihre 
Altäre und ihren Kultus lassen.“
	        
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