712 Zweites Buch.
wir einen lateinischen, griechischen oder Sanskrit-Ausdruck
durch einen französischen ersetzen, oder auch, wenn wir nur
ein in unserer eigenen Sprache geschriebenes Buch, das 200
bis 300 Jahre alt ist, verstehen wollen? Wir substituieren
einfach die Bilder und Vorstellungen, die das moderne Leben
unserem Bewußtsein eingefügt hat, den total verschiedenen
Begriffen und Bildern, die das antike Leben in der Seele von
Rassen erzeugte, deren Lebensbedingungen keine Analogie mit
den unseren aufweisen. Was taten die Menschen der Revo-
lutionszeit, als sie die Griechen und Römer nachzuahmen
glaubten, anderes, als daß sie alten Worten einen von ihnen
niemals gehabten Sinn gaben. Was war demnach eine Re-
publik anderes als eine wesentlich aristokratische, aus einer Ver-
einigung kleiner Despoten gebildete Institution — von Des-
poten, die eine in der absolutesten Unterwürfigkeit gehaltene
Sklavenmasse beherrschten? Diese auf Sklaverei begründeten
kommunalen Aristokratien hätten ohne jene nicht einen Augen-
blick bestehen können.
Und das Wort „Freiheit‘: wie konnte es in einer Zeit,
da die Möglichkeit der Denkfreiheit nicht einmal noch geahnt
ward, und wo es keine größere und seltenere Schandtat gab,
als über die Götter, die Gesetze und die Sitten des Staates
zu räsonnieren, dem, was wir heute darunter verstehen, Ähn-
liches bedeuten? Ein Wort wie „Vaterland‘‘ — was bedeu-
tete es in der Seele eines Atheners oder Spartaners, wenn
nicht die Verehrung Athens oder Spartas, keineswegs aber
Griechenlands, das aus rivalisierenden Stadtstaaten bestand und
stets im Kriege lag. Dasselbe Wort — welche Bedeutung
hatte es bei den in rivalisierende Stämme von verschiedener
Rasse, Sprache und Religion gegliederten alten Galliern, die
Cäsar leicht besiegte, weil er unter ihnen stets Verbündete
besaß? Rom allein gab Gallien ein Vaterland, indem es ihm
die politische und religiöse Einheit gab. Ohne so weit zurück-
zugehen, bloß kaum zwei Jahrhunderte zurück: glaubt man,
das Wort „Vaterland“ sei von französischen Fürsten, die, wie