Full text: Psychologie der Massen.

76 Zweites Buch. 
Stempel trägt. Oft schüttelt sie der Mensch um den Preis 
furchtbarer Umwälzungen ab, aber er scheint dazu verdammt, 
sie immer wieder aufzurichten. Ohne sie hätte er die primitive 
Barbarei nicht verlassen können, und ohne sie würde er ihr 
wieder bald verfallen. Gewiß sind es leere Schatten, aber 
diese Töchter unserer Träume ‘haben die Völker gezwungen, 
alles das, was den Glanz der Künste und die Größe der Zivili- 
sationen macht, zu schaffen. 
„Würde man alle Werke und Kunstdenkmäler, zu welchen 
die Religionen die Inspiration gegeben, in den Museen und 
Bibliotheken zerstören und auf den Fliesen der Kirchenplätze 
zertrümmern, was bliebe von den großen Träumen Jer Mensch- 
heit zurück? Den Menschen den Teil von Hoffnung und Illu- 
sionen, ohne die sie nicht leben können, zu geben, darin besteht 
die Berechtigung der Götter, Heroen und Dichter. Fünfzig 
Jahre lang schien die Wissenschaft diese Funktion zu erfüllen. 
Was sie aber bei den nach dem Ideal dürstenden Gemütern 
kompromittiert hat, ist, daß sie nicht mehr genug zu verheißen 
wagt und nicht genug zu lügen vermag.“ 
Die Philosophen des vergangenen Jahrhunderts widmeten 
sich mit Eifer der Zerstörung der religiösen, politischen und 
sozialen Illusionen, von denen unsere Völker viele Jahrhunderte 
lang gelebt hatten. Durch ihre Zerstörung haben sie die 
Quellen der Hoffnung und der Resignation vertrocknet. Hinter 
den geopferten Chimären fanden sie die: blinden und tauben 
Naturkräfte; unerbittlich der Schwäche gegenüber, kennen sie 
kein Mitleid. 
Die Philosophie hat es bei allen ihren Fortschritten noch 
nicht vermocht, den Massen ein Ideal darzubieten, das sie 
reizen könnte; da diese aber um jeden Preis Illusionen haben 
müssen, so wenden sie sich, wie die Motte zum Licht, in- 
stinktiv den Rhetoren zu, die ihnen solche bieten. Der große 
Faktor der Völkerentwicklung war niemals die Wahrheit, son- 
dern stets der Irrtum. Und wenn heute der Sozialismus so 
mächtig ist, so erklärt sich dies daraus, daß er die einzige
	        
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