Anschauungen und Überzeugungen der Massen. 83
Die Stärke ihres Glaubens verleiht ihren Worten eine große
suggestive Macht. Die Menge ist stets bereit, denjenigen an-
zuhören, der einen starken, imponierenden Willen besitzt. Die
zu Massen vereinigten Menschen büßen allen Willen ein und
wenden sich Instinktiv an den Besitzer eines solchen.
An Führern hat es den Völkern nie gefehlt, aber sie müssen
alle von jenen starken Überzeugungen beseelt sein, welche den
Apostel machen. Oft sind es subtile Rhetoren, die nur ihre
Eigeninteressen verfolgen und durch Schmeichelung niedriger
Instinkte zu überreden suchen. Der von ihnen geübte Einfluß
kann sehr groß sein, bleibt aber stets ephemer. Die großen
Überzeugten, welche die Massenseele erhoben haben, wie Peter
der Einsiedler, Luther, Savonarola, die Revolutionsmänner,
faszinierten erst, nachdem sie selbst durch einen Glauben faszi-
niert worden. Dann freilich konnten sie in den Seelen jene
furchtbare, Macht, die da Glauben heißt und den Menschen
zum völligen Sklaven seines Traumes macht, erzeugen.
Glauben erzeugen, sei es religiöser, politischer oder sozialer
Glaube, Glaube an eine Person oder an eine Idee, das ist die
besondere Rolle der großen Führer, und das ist der Grund,
warum ihr Einfluß immer beträchtlich ist. Von allen der
Menschheit zur Verfügung stehenden Kräften war der Glaube
allezeit eine der stärksten, und mit Recht schreibt ihm das
Evangelium die Macht zu, Berge zu versetzen. Dem Menschen
einen Glauben schenken heißt, seine Kraft verzehnfachen. Die
großen geschichtlichen Ereignisse wurden von obskuren Gläu-
bigen, die nichts für sich als ihren Glauben hatten, ins Leben
gerufen. Nicht durch Gelehrte und Philosophen, besonders
nicht durch Skeptiker sind die großen Religionen, welche die
Welt beherrscht haben und die riesigen Reiche, die sich von
einer Hemisphäre zur anderen erstreckten, geschaffen worden.
In Beispielen dieser Art handelt es sich jedoch um
große Führer, die so selten auftreten, daß die Geschichte deren
Zahl leicht bestimmen kann. Sie bilden den Gipfel einer un-
unterbrochenen Reihe, anfangend mit jenen mächtigen führen-
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