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römischen Juristen das Gesetz unter der Perspektive der Rechts-
quelle betrachten.
Das deutsche Recht kennt ursprünglich nur den materiellen
Gesetzesbegriff. Lex im Sinne der Volksrechte ist das wesentlich
durch Gewohnheitsrecht feststehende Recht, hauptsächlich das Privat-,
Straf= und Prozeßrecht umfassend. Es gilt als angeborenes Recht
des freien Mannes, nicht bloß als objektive Rechtsordnung, sondern
auch als subjektive Berechtigung. Daraus ergibt sich die formell-
rechtliche Wirkung: es ist der einseitigen Abänderung durch die
Obrigkeit entzogen. Will die Obrigkeit in das Volksrecht eingreifen
und es abändern, so kann sie das nur unter Zustimmung der Be-
teiligten. Als Zustimmung aller gilt die der Notabeln, der Majores
aut meliores terrae. Was in dieser Weise festgesetzt ist, wird
aber auch seinerseits wieder Volksrecht.
Die folgende Entwicklung hat das einheitliche Volksrecht ständisch
zersetzt in das Recht der einzelnen Stände. Und an die Stelle der
früheren Notabeln traten allgemein die Landstände, deren Zustimmung
zu einer Veränderung des Rechtszustandes eingeholt wurde.
Erst die Rezeption der fremden Rechte brachte zu den beson-
deren Standesrechten wieder ein neues gemeines Recht, so daß als
Gebiet der Gesetzgebung nunmehr galten die besonderen Standes-
rechte und die gemeinen Rechte, wie das noch §7 Einl. zum ALR.
ausspricht. Andererseits fiel in der absoluten Monarchie die Mit-
wirkung der Stände fort. Die Gesetze hoben sich doch aber immer
noch insofern aus dem Kreise der landesherrlichen Verordnungen
überhaupt heraus, als sie einer besonderen Vorbereitung in einem
Staatsrate oder einer Gesetzeskommission bedurften und nur ver-
bindlich wurden durch förmliche und feierliche Publikation.
Mit diesem geschichtlich seit einem Jahrtausend entwickelten
Zustande kreuzt sich nun der Gesetzesbegriff der konstitutionellen
Lehre, der ein gleichzeitig formeller und materieller war, derart,
daß beide Seiten sich deckten. Die Gesetzgebung sollte einen be-
sonderen Träger haben in der Volksvertretung, der gegenüber die
Mitwirkung des Monarchen zu einem bloßen Veto herabsank. Und
Gegenstand der Gesetzgebung sollte ausschließlich die Rechtssatzung
von Staats wegen, diese aber auch ganz sein.