176 Das Verfassungsrecht. 8 29
dispensieren und eine Ehe durch bloßen Konsens abschließen kannt).
Bei dieser sogenannten Gewissensehe sind, was bisher meist übersehen
ist, zwei Gesichtspunkte zu unterscheiden, der kirchenrechtliche und der
staatsrechtliche. Ob der Landesherr als Inhaber der Kirchengewalt
jemanden, insbesondere sich selbst, von dem Erfordernisse der kirchlichen
Tranung dispensieren kann, ist eine rein kirchenrechtliche Frage. Für
den Staat präjudizierlich wird sie nur insofern, als der Staat
das Eherecht vollkommen der kirchlichen Gewalt überlassen hat. So-
weit dagegen der Staat das Eherecht selbst regelt und die kirchliche
Tranung zur notwendigen Form der Eheschließung macht, ist die
lirchliche Trauung nicht nur eine kirchliche, sondern auch eine staat-
liche Rechtshandlung, die Geistlichen handeln als staatliche Personen=
standsbeamte. Der Landesherr als Juhaber der Kirchengewalt könnte
aber höchstens von den kirchlichen, nicht jedoch von den staatlichen
Formen der Eheschließung dispensieren.
Das A. L.-R. regelt nun nicht nur das ganze Cherecht von
Staats wegen, sondern bestimmt auch § 136 II, 1 ausdrücklich: „Eine
vollgültige Ehe wird durch die priesterliche Tranung vollzogen.“ Es
macht also die priesterliche Traunung zu der von Staats wegen gefor-
derten Form der Eheschließung. Demnach kann für die nach Erlaß
des A. L.-R. geschlossenen Ehen von Mitgliedern des königlichen
Hauses, da die Hausgesetze bezüglich der Form der Eheschließung nichts
bestimmen, über die Unzulässigkeit der Gewissensehe kein Zweifel ob-
walten. Sämtliche Mitglieder des königlichen Hauses gehen aber zurücck
auf Friedrich Wilhelm III., sie und ihre Vorfahren bis zu diesem
hinauf haben sich unter der Herrschaft des A. L.-N. verheiratet. Ueber
die formelle Nechtmäßigkeit der Ehen von Friedrich Wilhelm III. bis
zum ersten Erwerber hinauf ist, da dies die Linie der regierenden
Herrscher ist, jeder Zweisel ausgeschlossen. Man kann somit behaupten,
daß auf Grund der seit über einem Jahrhundert in Kraft stehenden
positiven Bestimmungen des preußischen bzw. Reichsrechtes die Ge-
wissensehen unzulässig sind, daß demnach auch Kindern aus einer
4) Vom staatsrechtlichen Standpunkte ist die Frage besonders be-
handelt von J. J. Moser, Familienstaatsrecht, Bd. 2, S. 208; Wilda,
Zeitschrift für deutsches Recht, Bd. 4, S. 148 ff.; A. W. Heffter,
Die Erbfolgerechte der Mantellinder, Kinder aus Gewissensehen, Berlin
1836. Ueber die kirchenrechtliche Seite vgl. A. L. Nichter-Dove-
Kahl Kirchenrecht, 8. Aufl., Leipzig 1886, S. 1136.