Full text: Preußisches Staatsrecht. Erster Band. (1)

426 Das Verfassungsrecht. 8 65 
Die Streitfrage hat jedoch nunmehr ihre Bedeutung verloren 
durch die genauere Umgrenzung der Redefreiheit der Volksvertreter in 
§ 11 des Reichsstrafgesetzbuches: „Kein Mitglied eines Landtages oder 
einer Kammer eines zum Reich gehörigen Staates darf außerhalb der 
Versammlung, zu welcher das Mitglied gehört, wegen seiner Ab- 
stimmung oder wegen der in Ausübung seines Berufes getanen 
Acußerung zur Verantwortung gezogen werden.“ Damit ist die 
Streitfrage, welche zu den widersprechenden Entscheidungen des Ober- 
tribunals und zu dem Verfassungsbruche des Abgcordnetenhauses Ver- 
anlassung gab, im wesentlichen erledigt. Die strafrechtliche Unverant- 
wortlichkeit erstreckt sich nicht nur auf Abstimmungen und Ansichten, 
welche ein Kammermitglied in der Ausübung seines Berufes tut, 
sondern auch auf die Behauptung von Tatsachen, indem das Wort 
„Aeußerung“ nicht nur seinem Sinne nach beide Arten von Erklä- 
rungen umfaßt, sondern auch bei Erlaß des Reichsstrafgesetzbuches 
gerade deshalb gewählt worden ist, um die Streitfrage in dem der 
neueren Rechtsprechung des Obertribunales entgegengesetzten Sinne zu 
entscheiden. Gedeckt wird nur Wort und Abstimmung, nicht jede 
sonstige Acußerung, die z. B. durch Tätlichkeiten erfolgt. 
Die Unverantwortlichkeit kommt den Volksvertretern nur zu statten, 
sofern sie sich bei der Abstimmung oder Aeußerung in der Ausübung 
ihres Berufes befunden haben. In der Ausübung seines Berufes 
befindet sich nun ein Volksvertreter nur dann, wenn er in der Kammer 
oder in den von ihr niedergesetzten Kommissionen tätig ist. Da- 
gegen gehören Wahlreden und Rechenschaftsberichte eines Abgeordneten 
für seine Wähler nicht zu seinem Berufe. Eine rechtliche Beziehung 
zwischen dem Abgeordneten und den Wählern besteht nur im Augen- 
blicke der Wahl. In der Wahlversammlung sind jedoch gesetzlich Er- 
örterungen und Beschlüsse für unstatthaft erklärt. Vor der Wahl 
ist überhaupt kein Rechtsverhältnis zwischen dem erst zu Wählenden 
und seinen Wählern vorhanden, und nach vollzogener Wahl hört 
dieses Rechtsverhältnis sofort wieder auf, da der Abgeordnete nicht 
der Bevollmächtigte seiner Wähler oder seines Wahlkreises, sondern 
nach ausdrücklicher Bestimmung der Verfassungsurkunde Vertreter des 
ganzen Volkes und an Aufträge und Instruktionen nicht gebunden ist. 
Das Reichsstrafgesetzbuch enthält nun zwar nur Normen über 
das ordentliche Strafrecht, während es das Dissziplinarverfahren der 
besonderen Gesetzgebung des Reiches und der Einzelstaaten überläßt.
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.