Full text: Preußisches Staatsrecht. Erster Band. (1)

428 Das Verfassungsrecht. g 66 
Grund für die Vorladung liegt aber in dem Bedürfnisse nach Ermitt- 
lung der Wahrheit in einem schwebenden Prozesse. Ebensowohl wie 
durch die Aeußerung im Hause kann das Gericht durch irgendwelche 
andere Gesichtspunkte auf den Zeugen aufmerksam geworden sein. Da 
der Zeuge diese gar nicht zu kennen imstande ist, so vermag er sich 
auch nicht auf seine Eigenschaft als Volksvertreter zu berufen. Wollte 
man aber den Grund der Vorladung in der Aecußerung sehen, auch 
zugunsten des Zeugen annehmen, daß das Gericht lediglich durch diese 
auf ihn aufmerksam geworden sei, so würde man damit jedem Volks- 
vertreter, dem die Verpflichtung zur Ablegung eines ihm unange- 
nehmen Zeugnisses droht, die Möglichkeit geben, durch eine Aeußerung 
im Hause sich seiner Zeugnispflicht zu entziehen. Auch was einem 
Mitgliede der Volksvertretung in Ansübung seines Berufs anvertraut 
ist, berechtigt nicht zur Zeugnisverweigerung. Ein Abgeordneter ist 
kein Beichtvater. Dagegen sind Mitglieder der Volksvertretung während 
der Dauer der Sitzungsperiode und ihres Aufenthaltes am Orte der 
Versammlung an diesem Orte zu vernehmen, soweit das Haus nicht 
eine Abweichung genehmigt (8 382 Z.-P.-O., 8 40 Str.-Pr.-O.). 
Es ist ferner nur die Verantwortlichkeit des Volksvertreters für 
Aeußerungen in seinem Berufe ausgeschlossen, dagegen nicht der straf- 
bare Charakter an und für sich strasbarer Handlungen verneint. Es 
kann daher wegen Aeußerungen, die unter anderen Umständen straf- 
bar sein würden, zwar keine Bestrafung erfolgen, dagegen können sich 
an die Aeußerung sonstige, an das Begehen einer strafbaren Hand- 
lung gelnüpfte Rechtsfolgen anschließen. Eine auf der Tribüne del 
Kammer gefallene Beleidigung kann z. B. mit einer außerhalb der 
Kammer gegen den betreffenden Volksvertreter geschehenen Beleidigung 
kompensiert werdento). Auch würde eine zivilrechtliche Schadensersatz- 
klage wegen Vermögensbeschädigung durch Verleumdungen in der 
Kammer nicht für ausgeschlossen zu erachten sein, da unter der Ver- 
antwortungslosigkeit nie die Ausschließung einer Zivilklage verstanden 
werden kann. 
Die Verantwortlichkeit der Volksvertreter findet nur statt inner- 
halb der Kammer. Während Art. 84 der Verfassungsurkunde auch 
100) Anderer Ansicht allerdings das Urteil des Reichsgerichts in 
Strassachen vom 5. März 1881, Bd. 4, S. 15; Stenglein, Lexikon des 
deutschen Strafrechts Bd. 2, S. 1001, mit der Begründung, Reden der 
Abgeordneten dürften überhaupt nicht Gegenstand richterlicher Erörté“ 
rung sein.
	        
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