430 Das Verfassungsrecht. 8 65
gegen eines seiner Mitglieder eingeleitet oder fortgesetzt werden dürfe,
beschäftigt, so handelt es nicht als richterliche, sondern als politische
Behörde. Das Haus hat nicht vom Rechtsstandpunkte aus zu unter-
suchen, ob eine strafbare Handlung vorliegt und deshalb die Straf-
versolgung gerechtfertigt erscheint. Seine Sache ist bloß die Erwägung
vom politischen Gesichtspunkte, ob Gründe vorliegen, die den
Verdacht begründen, daß die Regierung die Strafverfolgung während
der Sitzungsperiode nur in tendenziöser Absicht zur Fernhaltung des
betressenden Mitgliedes von dem Hause beabsichtige. Sobald das Haus
zu dieser Ueberzeugung gelangt, hat es im Interesse seiner Unab-
hängigkeit die Einleitung oder Fortsetzung der Strafverfolgung zu ver-
hindern. Dagegen hätte es, falls solche Verdachtsgründe nicht vor-
handen sind, die Verpflichtung zur Erteilung der Genehmigung, auch
wenn es der Ueberzeugung ist, daß in tatsächlicher oder rechtlicher
Beziehung eine strafbare Handlung gar nicht vorliege. Letztere Prü-
sung ist lediglich Sache der Gerichte. Die Praxis des Landtages ist
aber sehr weitherzig, jede Störung im parlamentarischen Berufe gilt
schon als Grund, die Immunität zur Geltung zu bringen. Nur wenn
der Betressende selbst das Interesse hat, sich von einem Verdachte zu
reinigen, wird die Genehmigung erteilt. Im übrigen haben, soweit
sich aus den Verhandlungen des Landtages die Gründe für seine Be-
schlüsse übersehen lassen, beide Häuser durchgängig an dem richtigen
Grundsatze sestgehalten, daß ihnen die Prüsung der Zulässigkeit der
Strafversolgung lediglich vom politischen Gesichtspunkte aus oblieget?).
12) Beispielsweise mögen hier angeführt werden die Berichte der
Justizlommission des Abgeordnetenhauses in den Drucksachen desselben
1850—51, Nr. 227; 1851—352, Bd. 4, Nr. 227;, 1852—53, Bd. 2, Nr. 100,
Bd. 6, Nr. 285; 1859, Bd. 3, Nr. 101. Gegen diesen Standpunkt der Kom-
mission ist auch in den Plenarverhandlungen jener Zeit keinerlei Wider-
spruch erhoben worden. Erst in der Sitzungsperiode 1863—64 hat die Justiz-
kommission des Abgeordnetenhauses die Ansicht ausgestellt, daß die Im-
munität der Volksvertreter nach der Verfassungsurkunde die Regel, die
Genehmigung der Strafverfolgung oder Verhaftung eines Abgeordnetem
die besonders zu rechtfertigende Ausnahme bilde. Dieser Ansicht ist
damals das Plenum des Abgeordnetenhauses durch seinen Beschluß bei-
getreten. Dadurch ist ein gewisses Schwanken in der Praxis des Land-
tages verursacht worden. Die Theorie nicht nur des preußischen, son-
dern auch des deutschen Staatsrechtes überhaupt hält dagegen fast
einstimmig an den oben im Texte entwickelten Grundsätzen sest. Im
Herrenhause hat sich bei der geringen Zahl von derartigen Fällem
eine Praxis nicht bilden können.