Full text: Preußisches Staatsrecht. Erster Band. (1)

8 71 Der Erlaß von Rechtsnormen. 467 
Die Rechtsnormen, welche Gegenstand des Verordnungsrechtes 
sind, erscheinen ihrem Wesen nach nicht verschieden von denen, welche 
der Gesetzgebung vorbehalten sind. Die früher herrschende Ansicht, 
welche annahm, daß Rechtsnormen nur im Wege der Gesetzgebung, 
d. h. durch königliche, nach vorheriger Zustimmung der Volksvertretung 
erlassene Verordnung, ergehen könntens), behandelt daher naturgemäß 
das Wesen der Rechtsnorm, die sie als Gesetz im materiellen Sinne 
bezeichnet, in dem Abschnitte über die Gesetzgebung. Nach der hier 
vertretenen Ansicht, welche Gesetz und Verordnung nicht nach ihrem 
Inhalte, sondern lediglich nach dem formellen Merkmale, nach der 
Art ihres Zustandekommens unterscheidet, muß der Begriff der Rechts- 
norm als aus dem Inhalte des staatlichen Aktes entnommen, sowohl 
unter den Gegenständen der Regierung wie unter denen der Gesetz- 
gebung wiederkehren. Er ist daher an dieser Stelle zu behandeln, wo 
er zuerst auftaucht. 
Worin das Wesen der Rechtsnorm oder des Gesetzes im mate- 
riellen Sinne besteht, ist bestritten. 
Man hat es sehen wollen in der Allgemeinheit der staatlichen 
Anordnung"). Denn die Rechtsnorm enthalte eine Regelung mensch- 
licher Lebensverhältnisse, und jede Regel müsse allgemein sein, überdies 
sei sonst ein Unterschied der Rechtsnorm von anderen staatlichen An- 
ordnungen nicht festzustellen. Daß eine Regel etwas allgemeines ist, 
läßt sich nicht leugnen, allein eine Regelung ist auch für den ein- 
zelnen Fall möglich. Ob sich sonst ein Unterschied von Rechtsnormen 
und anderen Staatsakten feststellen läßt, wird sich später finden. 
—.— 
3) Vgl. 8 78. 
4) Für die Notwendigkeit der Allgemeinheit G. Meyer in Grün- 
huts Ztschr. Bd. 8, S. 21; H. Schulze, Pr. St.-R. (1. Aufl.), 
Bd. 2, S. 205 ff.; Seligmann, Begriff des Gesetzes, Berlin 1886, 
S. 1 ff.; v. Stengel, Lehrbuch des deutschen Verwaltungsrechts, Stutt- 
gart 1886, S. 7, 25; dagegen Laband, Staatsrecht des Deutschen 
Reiches Bd. 2, S. 2 ff.; v. Martitz in der Tübinger Ztschr. Bd. 36, 
S. 207 ff.; Arndt, Verordnungsrecht, Berlin und Leipzig 1884, S. ö ff.; 
Jellinek, Gesetz und Verordnung, Freiburg i. B. 1887, S. 239 ff.; 
H. v. Schulze-Gaevernitz, Pr. St.-R. (2. Aufl.), Bd. 2, im 
Gegensatz zur 1. Aufl. Eine eigentümliche Stellung nimmt ein Rosin, 
Das Polizeiverordnungsrecht in Preußen, 2. Aufl., Berlin 1897, indem 
er nicht die Allgemeinheit, sondern die Einheit von Fällen, für die 
die Rechtsnorm gelten soll, als entscheidenden Gesichtspunkt betrachtet. 
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