Full text: Preußisches Staatsrecht. Erster Band. (1)

470 Das Verfassungsrecht. 871 
Die durchgreifende Unterscheidung der Rechtsnorm von der tat— 
sächlichen Anordnung ergibt sich nach den obigen Ausführungen ganz 
von selbst. Die Rechtsnorm setzt einen Tatbestand voraus, an dessen 
Eintreten sie gewisse Rechtsfolgen anknüpft. Die tatsächliche Anord- 
nung setzt nichts voraus, sie stellt vielmehr unmittelbar einen gewissen 
Zustand her. Diese Unterscheidung enthält die Merkmale beider Arten 
von Staatsakten in einer Weise, daß sie unmöglich miteinander zu 
verwechseln sind. 
Die durch Verordnung oder Gesetz erlassene Rechtsnorm ist aber 
ein Staatsakt. Kein Staat kann ohne Rechtsnormen bestehen, ihr 
Erlaß ist ein wesentlicher Bestandteil der Staatstätigkeit. Das Wesen 
des Staates besteht aber in der Herrschaft. Diese kommt auch zur 
Geltung beim Erlasse von Rechtsnormen. Die staatliche Rechtsnorm 
enthält daher einen Befehl zur Befolgung, und dieser Befehl wird 
nötigenfalls vom Staate oder seinen Organen erzwungen. Dadurch 
unterscheidet sich die staatliche Rechtsnorm von jeder anderen, etwa 
auf wissenschaftlichem Wege gefundenen. Diese letztere kann im ge- 
gebenen Falle zur praktischen Verwirklichung gelangen. Der staat- 
lichen Rechtsnorm wohnen Befehl und Zwang inne. Indem der 
Staat die Rechtsnorm erläßt, erheischt er ihre Befolgung. Er gibt 
den Befehl durch die Rechtsnorm selbst. Man kann deshalb Rechts- 
inhalt und staatlichen Befehl nicht auseinander reißen, womöglich die 
Feststellung eines jeden von beiden besonderen staatlichen Organen 
zuweisenti). Denn der Befehl liegt schon darin ausgesprochen, daß 
die Rechtsnorm vom Staate erlassen wird. Die staatliche Schaffung 
eines Rechtssatzes trägt den Befehl in sich, ohne daß er einer For- 
mulierung in dem Gesetze oder der Verordnung bedürfte. Wie wäre 
es unter diesen Umständen denkbar, daß ein Staatsorgan den Gesetzes- 
inhalt feststellte, ein anderes den dazu gehörigen Befehl erließe 712). 
Vorhanden ist die Rechtsnorm wie jeder Regierungs-- und Gesetz- 
gebungsakt schon mit dem Augenblicke, in dem der König ihn voll- 
zogen hat. Verbindlich wird die Rechtsnorm dagegen erst mit dem 
  
11) So Laband, Staatsrecht des Deutschen Reiches, Bd. 2, S. 3 ff. 
12) Gegen Laband Gierke in Grünhnts Zeitschrist, Bd. 6, 
S. 229; H. Schulze, D. St.-R., Bd. 1, S. 527. Vgl. jetzt die aus- 
führliche Widerlegung der Labandschen Theorie bei Jellinek d. a. O. 
S. 316. Dagegen hat sich für Laband erklärt Seydel im dritten 
Bande seines bayerischen Staatsrechtes, S. 550.
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.