l 77 Geschichtliche Eutwicklung des Gesetzesbegriffes. 505
Lex regia die ganze Machtfülle seiner eigenen Gewalt auf den Kaiser
übertragen habe. Jeder wie immer ausgesprochene Wille des Kaisers,
wenn er sich auch nur auf den einzelnen Fall bezieht oder vom
Kaiser in seiner Eigenschaft als höchster Richter ausgesprochen wird,
ist daher Gesetz, und hieran haben die römischen Juristen, welche nicht
völlig im Privatrechte aufgingen, auch theoretisch nie gezweifelts).
Der römische Gesetzesbegriff entspricht dem Charakter des Abso-
lutismus. Gesetz ist jede Willenserklärung der völlig schrankenlosen
Staatsgewalt, mag diese nun dem römischen Volke oder dem Keiser
zustehen. Aus dieser Schrankenlosigkeit der Staatsgewalt ergibt sich,
daß sie über alles, was sie will, ohne Rücksicht auf den bestehenden
Rechtszustand Anordnungen treffen kann. Der Begriff des Gesetzes
bestimmt also nichts über den Inhalt des Gesetzes und kann darüber
nichts bestimmen, da dadurch dem Willen der Staatsgewalt Schranken
auferlegt würden, dieser aber rechtlich schrankenlos ist. Nur aus der
Entstehung, nicht aus dem Inhalte des Gesetzes wird dessen Begriff
bestimmt. Es gibt nach römischem Staatsrechte, um den heute üblichen
Sprachgebrauch anzuwenden, nur ein Gesetz im formellen, nicht aber
im materiellen Sinne.
Einen genau entgegengesetzten Standpunkt wie das römische Recht
nimmt das ältere deutsche Recht ein. Wie jenes von der Schranken-
losigkeit, so geht dieses von der Beschränktheit der Staatsgewalt aus.
Insbesondere ist das gewohnheitsmäßig feststehende Privat-, Straf-
und Prozeßrecht, das als Lex bezeichnet wird, der Einwirkung des
5) Vgl. L. 1 pr. 8 1 D. de constitutionibus principum, 1, 4 (Ulpianus):
„Quod principi placuit, legis habet vigorem: utpote cum lege regia, duae de
imperio eius lata cst, populus ei et in eum omne suum imperium et potesta-
tem conferat. Quodcunque igitur imperator per cpistulam et subscripti-
Onem statuit vel cognosccnms decrevit vel de plano interlocutus est vel edicto
Draecepit, lepeem esse Constat. Haec sunt quae vulgo constitutiones apellamus“.
Entsprechend diesen lediglich den formellen Gesetzesbegriff zum Ausdrucke
bringenden Begriffsbestimmungen Ulpians hatte schon vorher Gaius
in den Institut. I, §8§ 2, 5 in klassischer Formulierung die Säte ausge-
sprochen: „Lex est quod populus iubet atque constituit“. „Constitutio prin-
cipis est ducd imperator decreto vel cdicto vel epistula Constituit. Nec umquam
dubitatum est, quin id legis vicem optineat, Cum ipse imperator per legem im-
Perium accipiat“. Von einem materiellen Gesetzesbegriffe im Sinne der
heutigen romanistischen Rechtswissenschaft ist in allen diesen Sätzen auch
nicht die geringste Spur zu finden.