877 Geschichtliche Entwicklung des Gesetzesbegriffes. 509
der ständischen Zustimmung abhängig zu machen, wenn die Durch-
führung der Maßregel ohne ständische Mitwirkung unmöglich war, so
war die Notwendigkeit der ständischen Zustimmung im einzelnen Falle
nicht mehr eine Rechtsfrage, sondern eine Machtfrage. Je nach den
politischen Zuständen in den einzelnen Gebieten mußte sich das ständi-
sche Mitwirkungsrecht bei der Gesetzgebung nach Zeit und Ort ver-
schieden entwickeln. Der frühere gleichzeitig formelle und materielle
Gesetzesbegriff als des Privat-, Straf= und Prozeßrechtes, welches nicht
im Wege einer einseitigen landesherrlichen Verordnung abgeändert
werden konnte, war jedenfalls aufs äußerste verdunkelt.
Aber auch soweit sich die ständische Mitwirkung bei der Gesetz-
gebung erhielt, mußte sice eine andere Gestalt gewinnen durch die seit
dem 14. Jahrhundert von Menschenalter zu Menschenalter strenger
durchgeführte ständische Gliederung der Gesellschaft. Wenn das Volk
rechtlich in verschiedene Klassen gesondert war, und jede Klasse ihr
besonderes Standesrecht besaß, so war gar kein gemeines Volksrecht
mehr vorhanden, dessen Abänderung der Zustimmung des Volkes
bedurft hätte. War früher das Volksrecht angeborenes Recht jedes
einzelnen, so jetzt das Standesrecht. Zu einer Veränderung besonderen
Standesrechtes des einzelnen, mochte dieses auf dem Privat-, Straf-
und Prozeßrechte oder mochte es auf dem Verwaltungsrechte beruhen,
genügte aber bei der Schwäche der landesherrlichen Gewalt die ein-
seitige landesherrliche Verordnung in der Regel nicht. Es bedurfte
der ständischen Mitwirkung und daher der ständischen Zustimmung.
Daher bildete sich die Rechtsüberzeugung aus, daß besondere Rechte
der einzelnen der willkürlichen Verfügung des Landesherren entzogen
seien. Aber auch bezüglich der ständischen Rechte wird seit der zweiten
Hälfte des 15. Jahrhunderts die ständische Mitwirkung bei Verände-
rungen des Rechtszustandes zu einer bloßen Machtfrage, die nach Zeit
und Ort verschieden sich erledigt.
Mit der Rezeption der fremden Rechte wurden die besonderen
Standesrechte zum großen Teile wieder ersetzt durch das neue, aus
fremden Rechtsquellen geschöpfte gemeine Recht. Dieses und die beson-
deren Standesrechte, soweit sie sich erhielten, bestanden nunmehr neben-
einander. Der Charakter der ständischen Mitwirkung bei der Gesetz-
Debung erfuhr jedoch durch diese Tatsache keinerlei Veränderung.
War die Notwendigkeit der ständischen Mitwirkung im allgemeinen
schon zur Zeit der Reformation lediglich eine Machtfrage, so mußte