558 Das Verfassungsrecht. § 83
Fassung vorhandene Freiheit der Auslegung teilweise auf. Sie hat
hat also nicht den Charakter eines bloßen Ergänzungsgesetzes, sondern.
gibt eine neue bestimmtere Fassung einer Verfassungsbestimmung. Hier-
in liegt aber eine Verfassungsänderung.
Bestritten ist nun, in welcher Weise diese Verfassungsänderung
vor sich zu gehen hat, ob eine besondere Abänderung des betreffenden.
Artikels der Verfassungsurkunde, sei es vor, bei oder nach Erlaß des
neuen mit der Verfassungsurkunde im Widerspruche stehenden Gesetzes,
notwendig ist, oder ob es genügt, daß bei Erlaß des Gesetzes die
besonderen Formen der Verfassungsänderung, zweimalige Abstimmung
mit einem Zwischenraume von 21 Tagen, beobachtet werden. Letztere
Ansicht ist als die richtige zu betrachten. Art. 107 der Versassungs-
urkunde erfordert zu Verfassungsänderungen nur den Weg der ordent-
lichen Gesetzgebung mit zwei Abstimmungen. Bei der ordentlichen
Gesetzgebung kann man aber eine bisher gültige Bestimmung entweder
ausdrücklich aufheben oder stillschweigend, indem die abweichende Be-
stimmung des neueren Gesetzes ohne weiteres das frühere Recht auf-
hebt. Da die Verfassungsurkunde das Erfordernis der ausdrücklichen
Verfassungsänderung nirgends aufstellt, vielmehr auf den ordentlichen
Weg der Gesetzgebung verweist, so ist anzunehmen, daß auch bei Ver-
fassungsänderungen eine besondere Aufhebung oder Aenderung des
betreffenden Verfassungsartikels nicht erforderlich ist.
Allerdings erscheint es wünschenswert, daß eine solche stattfindet.
Denn ein Gesetz, welches eine Aenderung der Verfassungsurkunde ent-
hält, ist seinerseits wieder ein Verfassungsgesetz und kann nur in den
besonderen Formen eines solchen eine Aenderung erfahren. Ohne jedes
äußerliche Kennzeichen würde es aber besonders nach Ablauf einer
längeren Zeit schwer festzustellen sein, ob ein Verfassungsgesetz vorliegt
oder nicht. Die bisherige Praxis ist daher meist für ausdrückliche
Abänderungen der betreffenden Stellen der Verfassungsurkunde gewesen.
Die wichtigste Ausnahme bildet Annahme der norddeutschen Bundes-
verfassung, welche die preußische Verfassungsurkunde in den mannig-
fachsten Beziehungen veränderte. Diese Ausnahme hatte aber ihren
guten Grund darin, daß die Bundesverfassung ein der Verfassungs-
urkunde vorgehendes Gesetz wurde, und deshalb nur vom bundes- bzw.
reichsrechtlichen Standpunkte, nicht aber von dem der preußischen Ge-
setzgebung entschieden werden konnte, inwiesern eine Aenderung der
Verfassungsurkunde vorliege.