Full text: Preußisches Staatsrecht. Erster Band. (1)

562 Das Verfassungsrecht. § 84 
Feststellung der Ausnahme teilweise Aufhebung des Gesetzes, also ihrer- 
seits wieder ein eine Rechtsnorm enthaltendes Gesetz. Ihrem Wesen 
nach haben beide Arten der sogenannten Dispensation nichts mitein- 
ander zu tun. 
2. Eine besondere Art der Dispensation ist die Begnadigungs). 
Sie hat zwar geschichtlich ihren Ausgangspunkt in der oberstrichter- 
lichen Gewalt des Landesherren, also in dessen Stellung zu der Justiz. 
Diese geschichtliche Grundlage ist jedoch längst vollständig verlassen wor- 
den. Das Begnadigungsrecht im heutigen Sinne ist zuerst für Preußen 
gesetzlich festgestellt worden im A. L.-R. II, 13 § 9. Hiernach kann 
das Recht, aus erheblichen Gründen Verbrechen zu verzeihen, Unter- 
suchungen niederzuschlagen, Verbrecher ganz oder zum Teil zu begnadi- 
gen, Zuchthaus-, Festungs= oder andere härtere Leibesstrafen in ge- 
lindere zu verwandeln, nur von dem Oberhaupte des Staates un- 
mittelbar ausgeübt werden, soweit er es nicht für gewisse Arten 
von Verbrechen oder Strafen einer ihm untergeordneten Behörde aus- 
drücklich übertragen hat. Durch die Aufhebung eines Verbrechens 
oder durch die Begnadigung des Verbrechers sollen jedoch die aus der 
Tat selbst erworbenen Privatrechte niemals gekränkt werden (8 10 
a. a. O.). Das Begnadigungsrecht ist dann weiterhin in gewissen 
Grenzen ausdrücklich anerkannt worden durch Art. 49 der Verfassungs- 
urkunde und für die Reichsstrafgesetze mittelbar durch §88 484, 485 der 
Strafprozeßordnung. 
Die Begnadigung im weitesten Sinne ist wie jede Dispensation 
die Aufhebung eines Gesetzes zugunsten einer bestimmten Person 
oder einer Mehrzahl bestimmter Personen. Dieses Gesetz kann das 
Strafgesetz selbst sein. Die Aufhebung des Strafgesetzes selbst zu- 
3) Die Literatur betrachtet sie meist vom strafrechtlichen Stand- 
punkte. Es ist daher auf die Lehr- und Handbücher des Strafrechts 
zu verweisen. Vgl. außerdem Plochmann, Das Begnadigungsrecht, 
Erlangen 1845; Arnold, Ueber Umfang und Anwendung des Begnadi- 
gungsrechtes, Erlangen 1860; Lüder, Das Sonuveränetätsrecht der 
Begnadigung, Leipzig 1860; v. Mohl, Staatsrecht, Völkerrecht und 
Politik, Bd. 2, S. 634 ff.; Wahlberg, Gesammelte Schriften, Bd. 1, 
S. 177, Bd. 2, S. 122 ff.; Elsaß, Ueber das Begnadigungsrecht haupt- 
sächlich vom staats- und strafrechtlichen Standpunkte aus, Mannheim 
1888. Die staatsrechtlichen Werke begnügen sich statt der staatsrechtlichen 
Charakterisierung meist gleich den strafrechtlichen mit der philosophischen 
Begründung des Begnadigungsrechtes.
	        
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