Full text: Preußisches Staatsrecht. Erster Band. (1)

574 Das Verfassungsrecht. § 86 
Eine Verschiedenheit der richterlichen Tätigkeit von derjenigen 
anderer Behörden könnte man nur darin sehen, daß es für letztere 
ein Gebiet freier Verwaltungstätigkeit gibt, wo sie in Ermangelung 
von Rechtsnormen nicht nach solchen, sondern allein nach Gesichts- 
punkten der Zweckmäßigkeit handeln, während die richterlichen Behörden 
lediglich auf die Vollziehung von Gesetzen beschränkt wären. Doch 
ist eine solche Beschränkung keineswegs vorhanden. Auch für die richter- 
lichen Behörden gibt es Gebiete der freien Verwaltungstätigkeit, wo- 
sie nicht nur Rechtsnormen anwenden, sondern frei nach ihrem Ermessen 
entscheiden, so z. B. vielfach auf dem Gebiete der Justizverwaltung. 
und dem der sogenannten freiwilligen Gerichtsbarkeit. 
Materiell besteht also kein Unterschied in der Tätigkeit der rich- 
terlichen und anderer staatlichen Behörden. Wenn gleichwohl die Justiz 
in Verfassung und Verwaltung des Staates eine Sonderstellung ein- 
nimmt, so kann diese nicht beruhen auf einer sachlichen Verschieden- 
heit dieses Zweiges der staatlichen Tätigkeit von anderen, sondern 
lediglich auf Gesichtspunkten der politischen Zweckmäßigkeit. Allein 
nach diesen beantwortet sich auch die Frage, wie die Grenze der Justiz. 
zu anderen Zweigen der Staatstätigkeit zu ziehen ist. 
Nach der Lehre von der Teilung der Gewalten war die richter- 
liche Tätigkeit sachlich verschieden von den anderen staatlichen Funk- 
tionen und wurde demgemäß besonderen Organen, den Gerichten, über- 
tragen. Insbesondere war diese Lehre zur praktischen Geltung gelangt 
in der belgischen Verfassung Art. 92 ff. Die preußische Verfassungs- 
urkunde schließt sich auch hier dem Wortlaute nach sehr eng an das 
belgische Vorbild an, obgleich sie in der Sache von ihm ganz er- 
heblich abweicht. Während nach belgischem Staatsrechte alle Gewalten 
vom Volke ausgehen, und dieses die Ausübung der richterlichen Gewalt 
den Gerichten überträgt, hat das preußische Staatsrecht einen entgegen- 
gesetzten Ausgangspunkt. Die Verfassungsurkunde hat den landrecht- 
lichen Satz, daß alle Rechte und Pflichten des Staates sich in dem 
Könige vereinigen, unberührt gelassen. Somit steht auch die richter- 
liche Gewalt dem Könige zu. Nur die Ausübung der richterlichen 
Gewalt ist durch Art. 86 der Verfassungsurkunde unabhängigen, keiner 
anderen Autorität als der des Gesetzes unterworfenen Gerichten über- 
tragen worden, jedoch mit dem ausdrücklichen Hinzufügen, daß sie 
diese im Namen des Königs auszuüben haben, daß alle Urteile im 
Namen des Königs ausgefertigt und vollstreckt werden.
	        
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