60 Grundzüge der Verfassungsgeschichte. §# 90
ausgehen, und dem Kaiser die Kommandogewalt zusteht, sondern auch
die Verwaltung Reichssache ist. Die Kosten werden ebenfalls vom
Reiche bestritten.
In dem Justizwesen hatte die norddeutsche Verfassung und an-
fangs die Reichsverfassung der Reichsgesetzgebung nur unterworfen das
Obligationenrecht, Strafrecht, Handels= und Wechselrecht und das ge-
richtliche Verfahren. Erst seit 1873 ist die Zuständigkeit der Reichs-
gesetzgebung auf das gesamte bürgerliche Recht ausgedehnt worden.
Von dieser Gesetzgebungsbefugnis hat das Reich den weitesten Gebrauch
gemacht, so daß gegenwärtig bürgerliches Recht, Handels= und Wechsel-
recht, Strafrecht und gerichtliches Verfahren vollständig kodifiziert sind
mit einzelnen Vorbehalten für Landesprivatrecht und Landesstrafrecht.
Bei Erlaß der Prozeßgesetze ist auch die Verfassung der Gerichte für
die streitige Gerichtsbarkeit von Reichs wegen geregelt worden. Die
Gerichte unterer und mittlerer Instanz sind, obgleich die Normen für
ihre Organisation lediglich vom Reiche ausgehen, Staatsgerichte ge-
blieben, die Gerichtsbarkeit in höchster Instanz hat jedoch das Reich
für sich in Anspruch genommen und läßt sie durch das Reichsgericht
in Leipzig ausüben. Preußen selbst hat seinen obersten Gerichtshof
verloren. Mit den Gerichten unterer und mittlerer Instanz ist auch
die Justizverwaltung den Einzelstaaten verblieben. Diese wird ge-
handhabt durch die Präsidenten der Gerichtshöfe und über diesen
durch das Justizministerium.
Auf dem Gebiete der inneren Verwaltung genießen die Einzel-
staaten noch die größte Freiheit der Bewegung. Gleichwohl greift
auch hier das Reich tief in das materielle Verwaltungsrecht ein.
Art. 4 der Reichsverfassung erstreckt die Zuständigkeit der Reichs-
gesetzgebung auf die Bestimmungen über Freizügigkeit, Heimats= und
Niederlassungsverhältnisse, Postwesen, Fremdenpolizei und den Gewerbe-
betrieb einschließlich des Versicherungswesens, Münzen, Maß und Ge-
wichte, das Bankwesen, Maßregeln der Medizinal- und Veterinär.
polizei, das Eisenbahnwesen, Handel und Schiffahrt, Presse, Vereins-
und Versammlungswesen. Im übrigen ist die innere Verwaltung
der Gesetzgebung bzw. dem Verordnungsrechte der Einzelstaaten über-
lassen. Ebenso sind die Organe fast ausschließlich diejenigen der all-
gemeinen Landesverwaltung der Einzelstaaten. Nur für die oberste
Verwaltungsgerichtsbarkeit in Heimats= und Niederlassungsangelegen-
heiten einschließlich der Armenpflegesachen besteht ein Reichsverwal