Full text: Preußisches Staatsrecht. Erster Band. (1)

8 10 Der Begriff des Staates. 65 
allgemeine Abstraktion aus geschichtlich gegebenen Machtverhältnissen, 
und noch immer ist Macht von niemand anders als von Menschen 
auf Erden ausgeübt worden. 
Das Mittelalter hatte sich im allgemeinen zu dieser Abstraktion 
noch nicht durchgerungen, wenn es auch schon im Reiche das Bleibende 
und Dauernde sah im Gegensatze zur vergänglichen Persönlichkeit 
des einzelnen Königs. Wie das Mittelalter mehr an der äußeren 
Erscheinung haftete, so war seine Staatsauffassung noch eine dua- 
listische. Nachdem schon Tacitus die Vereinigung von Imperium und 
Libertas als das Charakteristische des germanischen Staates bezeichnet 
hatte, traten Obrigkeit und Volk als gleichgeordnete Mächte einander 
im mittelalterlichen Staate gegenüber, wobei allerdings der Volks- 
begriff sich mehr und mehr auf die höheren Klassen, die herrschenden 
Stände, beschränkte. Das war die spätere Bedeutung von Kaiser 
und Reich in Deutschland, und diese Entwicklung setzt sich in den ein- 
zelnen Ländern fort in Landesherren und Landständen. Beide stehen 
als gleichgeordnete Faktoren des Staatslebens in gewissermaßen ver- 
tragsmäßigen Beziehungen zueinander. Dieser Dualismus hat sich im 
wesentlichen in England bis zur Gegenwart behauptet. 
Die Staatsauffassung des Festlandes hat sich im Beginne der 
Neuzeit mit Hilfe des Naturrechtes durchgerungen zur Anerkennung 
einer einheitlichen Staatspersönlichkeit. Gelungen ist das freilich nur 
mit Hilfe eines wissenschaftlichen Irrtums, nämlich mit der Fiktion 
des Vertragsstaates. 
Die im Naturzustande staatenlos lebenden Menschen haben sich 
durch bewußte Willenserklärung, durch Vertrag, in eine staatliche Ge- 
meinschaft begeben, den Staat begründet und die herrschende Obrigkeit 
geschaffen. Damit sind die dualistischen Elemente des germanischen 
Staates vereinigt in einer höheren Einheit. Das Volk, die Summe 
der Einzelmenschen, ist durch die vertragsmäßige Begründung Grund 
und Quelle der staatlichen Gewalt geworden, hat diese Gewalt aber 
auf einen — damals regelmäßig absoluten — Monarchen übertragen. 
Für Friedrich den Großen und die Verfasser des preußischen 
Landrechtes galt der Vertragsstaat und damit die theoretische Volks- 
sounveränetät als ausgemachte Sache. Ob nun freilich Ludwig XIV. 
mit seinem „L'Etat c'iest moi“ sich mit dem Staate identifizierte, oder 
Friedrich der Große sich für den ersten Diener des Staates, eines 
Bornbat, Dreußtsches Staatsrecht. I. 2. Aufl. 5
	        
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