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allgemeine Abstraktion aus geschichtlich gegebenen Machtverhältnissen,
und noch immer ist Macht von niemand anders als von Menschen
auf Erden ausgeübt worden.
Das Mittelalter hatte sich im allgemeinen zu dieser Abstraktion
noch nicht durchgerungen, wenn es auch schon im Reiche das Bleibende
und Dauernde sah im Gegensatze zur vergänglichen Persönlichkeit
des einzelnen Königs. Wie das Mittelalter mehr an der äußeren
Erscheinung haftete, so war seine Staatsauffassung noch eine dua-
listische. Nachdem schon Tacitus die Vereinigung von Imperium und
Libertas als das Charakteristische des germanischen Staates bezeichnet
hatte, traten Obrigkeit und Volk als gleichgeordnete Mächte einander
im mittelalterlichen Staate gegenüber, wobei allerdings der Volks-
begriff sich mehr und mehr auf die höheren Klassen, die herrschenden
Stände, beschränkte. Das war die spätere Bedeutung von Kaiser
und Reich in Deutschland, und diese Entwicklung setzt sich in den ein-
zelnen Ländern fort in Landesherren und Landständen. Beide stehen
als gleichgeordnete Faktoren des Staatslebens in gewissermaßen ver-
tragsmäßigen Beziehungen zueinander. Dieser Dualismus hat sich im
wesentlichen in England bis zur Gegenwart behauptet.
Die Staatsauffassung des Festlandes hat sich im Beginne der
Neuzeit mit Hilfe des Naturrechtes durchgerungen zur Anerkennung
einer einheitlichen Staatspersönlichkeit. Gelungen ist das freilich nur
mit Hilfe eines wissenschaftlichen Irrtums, nämlich mit der Fiktion
des Vertragsstaates.
Die im Naturzustande staatenlos lebenden Menschen haben sich
durch bewußte Willenserklärung, durch Vertrag, in eine staatliche Ge-
meinschaft begeben, den Staat begründet und die herrschende Obrigkeit
geschaffen. Damit sind die dualistischen Elemente des germanischen
Staates vereinigt in einer höheren Einheit. Das Volk, die Summe
der Einzelmenschen, ist durch die vertragsmäßige Begründung Grund
und Quelle der staatlichen Gewalt geworden, hat diese Gewalt aber
auf einen — damals regelmäßig absoluten — Monarchen übertragen.
Für Friedrich den Großen und die Verfasser des preußischen
Landrechtes galt der Vertragsstaat und damit die theoretische Volks-
sounveränetät als ausgemachte Sache. Ob nun freilich Ludwig XIV.
mit seinem „L'Etat c'iest moi“ sich mit dem Staate identifizierte, oder
Friedrich der Große sich für den ersten Diener des Staates, eines
Bornbat, Dreußtsches Staatsrecht. I. 2. Aufl. 5