8 11 Staatsrechtlicher Charakter des preußischen Staates. 69
Die Auflösung des Reiches, welche rechtlich die letzten Spuren
der Unterordnung Preußens unter ein anderes staatliches Gemein-
wesen hinwegräumte, blieb daher in dem preußischen Staatsrechte der
damaligen Zeit fast unbemerkt. Jedenfalls war aber seitdem erst
Preußen in allen seinen Teilen ein rechtlich allerseits anerkanntes
souveränes Staatswesen. Dies änderte sich auch nicht mit der Be-
gründung des Deutschen Bundes. Da dieser nur eine dauernde völker-
rechtliche Vereinigung der deutschen Staaten zur Erhaltung der äußeren
und inneren Sicherheit Deutschlands bildete, ließ er die Souveränetät
der Einzelstaaten unberührt. Die Grundverträge des Deutschen Bundes
erkennen diese daher wiederholt ausdrücklich ans).
Zweifelhafter könnte es erscheinen, ob Preußen durch seinen Ein-
tritt in den Norddeutschen Bund und dessen Rechtsnachfolger, das
Deutsche Reich, nicht eine Beeinträchtigung seiner souveränen Stellung
erfahren hat. Im Gegensatze zu dem Deutschen Bunde, der nur eine
völkerrechtliche Vereinigung deutscher Staaten war, ist das Deutsche
Reich eine selbständige, keiner höheren Gewalt unterworfene staatliche
Bildung. Es ist also, wenn man lediglich diese höchste Gewalt, welche
von jeder anderen unabhängig ist, als Sonveränetät bezeichnet, ein
souveräner Staat.).
Wie steht es dagegen mit der Souveränetät der Einzelstaaten?
Die politische Betrachtung kann hier zu anderen Ergebnissen
führen als die staatsrechtliche.
Für die Politik ist das Reich eine Schöpfung des preußischen
Staates, der hinter dem Reiche steht, für seinen König als Kaiser
allein die volle Kriegsherrlichkeit behauptet und die anderen deutschen
Staaten in bündischen Formen sich angegliedert hat. Hiernach ist
Preußen allein souverän, nicht aber die anderen deutschen Staatend).
Das Staatsrecht wird zu anderen Ergebnissen kommen, ohne
daß man diese mit Treitschke lächerlich zu finden braucht. Denn das
Staatsrecht deckt sich nicht immer mit den tatsächlichen politischen
Zuständen, es hat vielfach sogar die Aufgabe, diese zu ver decken.
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8) Vgl. z. B. die Wiener Schlußakte vom 15. Mai 1820 — G.-S.
1820, S. 113 ff. — Art. 55, 57, 58.
4) Vgl. über den Charakter des Reiches, dessen Darstellung in
das Reichsstaatsrecht gehört, Laband, a. a. O.
5) v. Treitschke, Politik Bd. 2, Leipzig 1898, S. 339 ff.