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Es ist daher nur folgerichtig, wenn ein Philosoph, welcher es eben-
falls als Sache der überwiegenden Gewalt betrachtet, sich zum Re-
genten zu machen, zu dem Schlusse kommt, daß das Staatsrecht gar
keine Aufgabe der philosophischen Rechtslehre sei. Die Gründung
der Staaten sei nur ein geschichtliches Ereigniß, wofür es keine
„constitutiven Rechtsprincipien“ gebe; das Verhältniß zwischen dem
Volke und dem Regenten sei ein bloßes Verhältniß der Gewalt 80).
Der Verlauf unserer Untersuchung wird hoffentlich beweisen, daß,
bei aller Achtung vor den Faktoren des wirklichen Lebens, eine Legi-
timität der Staatsgewalt und selbst eine Legitimirung anfänglicher
Usurpation möglich ist, aber entschieden müssen wir uns schon hier
gegen eine Doktrin verwahren, welche jenen rechtlosen Zustand so-
gar für den vernünftigen erklärt, weil nur so die öffentliche Mei-
nung ihre volle Macht im Staate äußern könne 81). Die öffentliche
Meinung ist unzweifelhaft in allen öffentlichen Verhältnissen aus
Gründen der Zweckmäßigkeit und der Sittlichkeit in hohem Maße
zu berücksichtigen; aber wenn sie von keinen Schranken des Rechts
zurückgehalten wäre, würde sie bei den steten Schwankungen, denen
sie unausbleiblich ausgesetzt ist, dem Leben des Staats jede Sicher-
heit und damit die unentbehrlichste Bedingung des Gedeihens, ja
der Existenz entziehen.
Mehrere hochgeachtete Staatsrechtslehrer, welche im Allgemeinen
der Gewalttheorie nicht huldigen, zum Theil sogar dieselbe höchst
energisch bekämpfen 832), wollen jedoch in einem Fall unmittelbar
aus der' Gewalt ein Recht hervorgehen lassen, nämlich sofern ein
Nothstand die Anwendung der Gewalt gebietet. So handelt Bluntschli
80) Fries, 1. c. S. 338—349. Wie Fries trotz dieser Negation des Staats-
rechts von einem realrechtlichen Bestehen des Staates spricht, auch jeden wirklichen
Regenten, der das Rechts-(Vernunft-)Gesetz zu realisiren sucht, als einen Regen-
ten von Rechtswegen bezeichnet (S. 331 und 337), so gebrauchen die Anhänger
der Theorie, welche mit dem Besitze der Staatsgewalt unmittelbar das Herrscher-
recht gegeben glaubt, nicht selten Ausdrücke, welche eine Unanwendbarkeit aller
Rechtsprincipien auf die Entstehung und den Erwerb der Staatsgewalt zu be-
deuten scheinen.
81) Fries, S. 346.
82) Bluntschli, I, S. 22—23, 258—260; Mohl, Encyklop. S. 93; Warn-
könig, Rechtsphilosophie, S. 228—229. Vortreffliche Bemerkungen über die Be-
deutung der Macht für den Staat, freilich mehr von ethischem als von rechtlichem
Standpunkt, finden sich auch in Trendelenburg's Naturrecht, & 152 und 153
(namentlich die Bekämpfung der „Theorie der Usurpation“ S. 300—301).