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rung des Subjekts der Staatsgewalt gar keine Usurpation erkennen
läßt. Dieses Princip ist die latente Volkssouverainität. Dasselbe
hat aber eine zwiefache Ausbildung empfangen, deren Verschiedenheit
zwar kaum für die Entscheidung unserer Frage, dagegen in hohem
Maße für die nähere Begründung der Entscheidung von Einfluß
ist: während die Einen lediglich für gewisse Fälle die rechtliche
Möglichkeit einer Aktivirung der Volkssouverainität annehmen,
unter dieselben aber in der Regel jede Usurpation der Staatsgewalt
begreifen, machen die anderen ein unmittelbares Thätigwerden des
souverainen Volkes nur von dessen Belieben abhängig. Milton#o)
und Locketm) sind die Hauptrepräsentanten der erstern Richtung;
ihnen folgen im Wesentlichen die Deutschen Staatsrechtslehrer F.
Murhardus), C. von Rotteck“s) und H. Ahrens). Die
zweite Richtung ist, so viel mir bekannt, nur von Französischen
Schriftstellern vertreten, unter denen aber sehr bedeutende sich be-
finden: ich führe Benjamin Constant's), Sismondits), Jules
Simont') und Baudrillart!"") an. Diese Differenz der Auf-
fassung bei wesentlicher Uebereinstimmung über den Grundgedanken
erklärt sich durch den verschiedenen Ausgangspunkt: während die-
Engländer nur bemüht waren, mit vollkommener Anerkennung der
130) loannis Miltoni, Pro populo Anglicano defensio, Londini 1651,
besonders Cap. 6—8.
131) John Locke, Two treatises of governement, Lond. 1680. Hier
kommt nur in Betracht die zweite Abhandlung „Of civil government,“ nament-
lich Cap. 13 0,Of the subordination of the powers of the commonweath,
17 0Of usurpation“), 18 (,Of tyranny“), 19 Of the dissolution of go-
vernmentt). #
132) F. Murhard, Die Volkssouverainität im Gegensatz der s. g. Legitimität,
1832, bes. S. 64 u. 72.
133) Im Staatslerikon, Art. Legitimität. (Bd. 8, S. 476—481.)
134) H. Ahrens, Die organische Staatslehre, bes. S. 168—171, 190—200.
Derselbe nennt die latente Volkssouverainität „Nationalsouverainität“.
135) Cours de politique Constitutionnelle, I, S. 7 ff (Principes de poli-
tique, Mai 1815, Cap. 1) II, S. 274 ff. (Zweites Zusatzkapitel zur vierten
Ausgabe seiner Schrift „De Tesprit de conquste et de PTusurpation).
136) Etudes sur les constitutions des peuples libres, S. 302—303.
137) Dietionnaire général de la politique, Art. Autorité (I, S. 168
—172).
138) Ebenfalls im Diet. de la politigue, Art. Etat (I. S. 935—943, bes.
940—941). Der Aufsatz Emile de Girardin's, Souveraineté (II, S. 740—42)
enthält nur unklares Geschwätz.