— 55 —
vollständigen Würdigung der hier bekämpften Theorie, andererseits
können diese Willenserklärungen mindestens zum Theil eine hohe
faktische Bedeutung in Anspruch nehmen und, sofern das Volk wirk-
lich bisher Träger der Souverainität gewesen ist, unter Umständen
auch die ihnen zugeschriebene rechtliche Wirkung haben. Als solche
Erklärungen des Volkswillens, daß er eine Usurpation nachträglich
gutheiße, werden angeführt: unzweidenutige Thatsachen und Abstim-
mung der eigens zur Willensäußerung aufgeforderten Bürger oder
ihrer ächten Repräsentanten 5).
1. Als Thatsachen, aus denen die Zustimmung des Volkes zu
der Herrschaft, welcher es faktisch unterworfen ist, gefolgert werden
soll, werden namentlich bezeichnet die längere Zeit hindurch fort-
dauernde Ruhe ½7) und, in spezieller Beziehung, die Vererbung der
usurpirten Krone 8); beide Ansichten treffen in dem Begriff der
ungestörten Fortdauer der faktischen Herrschaft zusammen. Damit
aber diese einen Schluß auf den Willen des Volkes gestatte, müßte
erwiesen sein, daß dem Volke ein aktiver Widerstand möglich ge-
wesen, und daß nicht begründete Furcht oder Gleichgültigkeit, nicht
Rücksichten der Zweckmäßigkeit oder die Ueberzeugung von der Recht-
mäßigkeit des Herrschers denselben verhindert haben; der bloße Gehor-
sam gegenüber einer bestehenden Staatsherrschaft ist eben Alles eher als
ein Zeichen, daß diese Herrschaft dem wirklichen Willen der Bevölkerung
entspreche; andererseits braucht nicht einmal eine thätliche Auflehnung aus
einer auf den Sturz des Herrschers gerichteten Absicht hervorzugehen.
Aber selbst eine Benutzung der bestehenden Staatseinrichtungen für
die eigenen Zwecke und eine positive Unterstützung der Staatsgewalt
von Seiten der Unterthanen wird nicht sowohl den Willen, dieselbe
156) Rotteck, S. 477—78.
157) Rotteck, S. 478; ogl. die oben S. 35 angeführte Aeußerung Bodin's.
158) Benjamin Constant, II, S. 275: „J'admets deux sortes de lé6giti-
mité: PTune positive, qui provient d'une Glection libre, F’autre tacite, qui
repose sur Phérédité; et j'ajoute que Phérédité est Egitime, parce due
les habitudes qu'’elle fait naftre, et les avantages qu’felle procure, la ren-
dent le voeu national“; vgl. I, S. 187: „On n'est monarque héréditaire
qu'après la seconde génération. Jusques alors, D’usurpation peut bien
s’intituler monarchie: mais elle Cconserve Pagitation des révolutions qui
Pont fondée.“ Allerdings ist hier der ruhige Uebergang der Herrschaft vorzüg-
lich als die Ursache, weniger als das Resultat des Volkswillens aufgefaßt; in-
dessen soll offenbar auch nach Constant's Ansicht der Wille aus der Zufriedenheit,
die Zufriedenheit aus dem Aufhören der revolntionären Zuckungen gefolgert
werden.