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Solche Tendenzen aber rüttelten an den ersten Grund-
lagen des bisherigen Europa. Der Gegensatz der revolutio-
nären und der legitimen Dynastien barg nunmehr den tiefern
Widerspruch zwischen der Gesellschaft völkerrechtlich unab-
hängiger Staaten, in welche Europa früher zerfiel, und einem
auf abhängigen Gemeinwesen erbauten Weltstaate, welcher
Europa künftighin umfassen sollte; denn einem Kaiser des
Abendlandes gegenüber gab es kein Völkerrecht.
Auch das römische Reich hatte, als es die Welt zu um-
spannen begann, das internationale Rechtsleben verschlungen,
die Existenzberechtigung anderer Staaten geleugnet und als
Rebellen gegen die Majestät des römischen Volks alle diejenigen
angesehen, die ihm die Herrschaft auch nur über einen Theil
des Erdkreises streitig zu machen versuchten. 1) Sogar das
Papstthum hat die Entwickelung eines Völkerrechts gehemmt,
solange es die Unabhängigkeit der einzelnen Staaten durch
die Idee einer die ganze Christenheit umfassenden Einheit zu
negiren und den Gegner seiner Ansprüche als Feind der Kirche,
somit als Verbrecher zu verfolgen vermocht hatte. 2)
Ebenso mußte die in den Händen Eines Mannes oder
Einer Nation concentrirte Herrschaft über den europäischen
Continent ein Recht gefährden, das nur auf der Coordintrung
unabhängiger Staaten, niemals aber auf der Unterordnung
aller Völker unter Einen höchsten Willen beruhen kann. Jeder
1) Müller = Jochmus, Geschichte des Völkerrechts im Alterthum,
S. 133, 134. Laurent, Histoire du droit des gens, III, 269, 274.
Dieck, Dominium mundi (Ersch und Gruber's Encyklopädie, Sect. 1,
Thl. 26), S. 503. v. Kaltenborn, Kritik des Völkerrechts, S. 23.
„:) Klüber, Droit des gens, §. 12. Heffter, Europäisches Völker-
recht, 4. Ausg., S. 11, Note 1. Oppenheim, System des Völkerrechts,
2. Ausg., S. 14, 21.