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Versuch, die nationale Unabhängigkeit und Wohlfahrt zu ver-
theidigen, mußte solchen Bestrebungen gegenüber als Empö-
rung erscheinen, die mit sofortigem Kriege, mit Entthronung
der schuldigen Dynastie zu bestrafen sei. Ja, selbst der Krieg
mußte den Charakter eines völkerrechtlichen Rechtsmittels ver-
lieren, wenn er gegen den Herrn des europäischen Festlandes
geführt wurde: diesem gegenüber konnte er nur Aufruhr sein,
konnte von ihm auch nur niedergeschlagen werden durch die
Execution des von ihm gesprochenen Verdammungsurtheils,
nicht aber durch wirklichen Krieg, der auch dem Gegner das
gleiche Recht gewährt.
Napoleon ist auf vem Wege gewesen, dieses Ziel zu er-
reichen. Schon durfte er fast wie Cicero sprechen: „Possum
de omni regione, de omni genere hostium dicere: nulla
gens est, quae non aut ita sublata sit, ut vix exstet,
aut ita domita, ut qduiescat, aut ita pacata, ut victoria
nostra imperioque laetetur.“ 1) Auch hat seine Behandlung
des besiegten Feindes mehr als einmal darauf schließen lassen,
daß er den Widerstand gegen seine Plane für ein strafbares
Verbrechen, nicht für die Anwendung der im Völkerrechte zu-
lässigen Selbsthülfe ansah. Die Gefahr, daß insbesondere
das ganze westliche und mittlere Europa dem „seelenlosen
Despotismus“:) eines Universalstaats verfallen werde, rückte
in bedrohliche Nähe. Die Achtung vor Verträgen, vor den
historischen Volksindividualitäten, vor der Existenzberechtigung
der vorhandenen Staaten, vor dem Rechte der bestehenden
Dynastien hatte der Kaiser längst abgestreift: es schien schlechter-
) Cicero, Oratio de provinciis consularibus, cap. 12 i. f.
:) Kant, Zum ewigen Frieden (Königsberg 1796), S. 63.