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schien, er mußte doch jederzeit als ein legitimer bezeichnet
werden; die Nation trat niemals durch eine Usurpation aus
dem rechtlichen Zustande heraus in einen factischen, wider-
rechtlichen Zustand des öffentlichen Lebens, um erst durch die
gewohnheitsrechtliche Heilung dieses letztern wieder in den
Rechtszustand zurückzukehren. Das Gleiche ist überall da der
Fall gewesen, wo das Gewohnheitsrecht einen bestimmenden
Einfluß auf die Verfassungsgeschichte eines Landes gehabt hat:
überall hat hier die Rechtsüberzeugung der Nation, d. i. auf
dem Gebiete des Staatsrechts vorzüglich die Rechtsüberzeugung
derjenigen Personen, welche in der Lage sind, den öffentlich-
rechtlichen Verhältnissen gegenüber eine bestimmte Anschauung
in bestimmter Uebung bethätigen zu können 1), im stillen, ge-
wissermaßen unbewußt, gearbeitet und endlich den neuen Rechts-
satz zu Tage gefördert, niemals aber in offenem bewußtem
Gegensatze dem bestehenden Staatsrechte gegenübergestanden.
Ein Conflict der letztern Art zwischen dem bestehenden Rechte
und der nationalen Rechtsüberzeugung hat seine Lösung viel-
mehr überall in einem gleichfalls offenen und bewußten Acte
des Volkswillens oder der Staatsgewalt, nämlich in einer
Revolution oder in einem Gesetze gefunden.
Wie hiernach die Vollziehung einer Usurpation durch Ge-
wohnheitsrecht nicht möglich ist, da die Usurpation stets ein
widerrechtlicher Act, die Veränderung einer Verfassung durch
Gewohnheitsrecht aber stets eine rechtmäßige Umänderung des
bisher gültigen geschriebenen oder ungeschriebenen Rechts ist,
so können selbstverständlich auch alle diejenigen Bestandtheile
der Verfassung, welche eine andere als eine gesetzliche Um-
änderung überhaupt nicht zulassen, dem umbildenden, derogi-
1) Vxgl. v. Gerber, a. a. O., S. 14, 15.