DER HENKER VON LITAUEN 87
Prestige des Fürsten, der, abgesehen von seiner rednerischen Unvoll-
kommenheit, so viele ausgezeichnete Eigenschaften besaß. Zu diesen gehörte
in erster Linie, daß er sich von seinesgleichen, von Ministern wie von Fürst-
lichkeiten, nie imponieren ließ. Souveräne, erwiderte er sogleich dem
russischen Minister, wären leicht geneigt, den edlen Regungen ihres groß-
mütigen Herzens zu folgen. „C’est aux ministres qu’il incombe de mettre
d’accord ces nobles @lans avec les re&alites politiques et les ndcessites
&conomiques.“ Murawiew lächelte und erwiderte, er schlüge vor, daß diese
Frage, wie manche andere, zwischen mir und ihm gründlicher besprochen
würde, als es jetzt möglich wäre. Wir wären alte und gute Freunde und
würden eine Lösung finden.
Später hatte ich eine zweistündige Unterredung mit dem Grafen Mura-
wiew. Graf Michael Nikolajewitsch Murawiew, der einige Jahre älter war
als ich, entstammte einem russischen Bojarengeschlecht. Ein Sproß dieser
Familie, Graf Murawiew-Apostol, hatte 1825 zu den Führern der Deka-
bristen-Bewegung gehört. Zum Tode verurteilt, sollte er gehängt werden.
Der Strick riß, und Murawiew fielzu Boden. Während der Henker am Galgen
einen neuen Strick befestigte, rief ihm der schwärmerische Jüngling zu:
„En Russie on ne sait rien bien faire, pas m&me pendre.‘ Sehr verschieden
von diesem Idealisten war der sogenannte „Henker von Litauen“, der die-
selben Vornamen führte wie später der Minister des Auswärtigen. Als 1863
während des großen polnischen Aufstands, der Bismarck die Gelegenheit
bieten sollte, durch seine stramm antipolnische Haltung sich das Vertrauen
Alexanders II. für viele Jahre zu erwerben und so die Politik von 1864,
1866 und 1870 durchzuführen, die Zustände in Litauen immer bedrohlicher
wurden und die Flammen des Aufruhrs bis Dünaburg und fast bis Pskow
züngelten, ließ Alexander II., von Sorge erfüllt, den damaligen Minister
der Reichsdomänen, den Grafen M. N. Murawiew, kommen und beauftragte
ihn mit der Wiederherstellung der Ordnung in den weiten litauischen
Gebieten. Murawiew erklärte sich bereit, verlangte aber vollkommen freie
Hand. Alexander II., der, bei einer edlen Natur und einem weichen Herzen,
wenn an seine Selbstherrschaft gerührt wurde, doch gelegentlich in das
Wesen seines Vaters und Großvaters zurückfallen konnte, hatte ob dieser
Zumutung zunächst einen förmlichen Wutanfall bekommen. Er faßte den
Grafen beim Arm und fragte ihn, ob er als Rebell und Hochverräter er-
schossen zu werden wünsche. Da der zum Diktator in Aussicht genommene
General aber dabei blieb, daß ein Diktator ohne diktatorische Befugnisse
ein Unding sei, gab der Zar nach, wie jeder Autokrat nachgibt, wenn er
Furcht hat. Vierundzwanzig Stunden später reiste Graf Michael Nikola-
jewitsch Murawiew nach Wilna ab. Zum Adjutanten hatte er sich einen
Jungen Offizier, denspäteren G ladjutanten Al ders III., Tscherewin,
Gespräch mit
Murawiew