Full text: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Erster Band. Vom Staatsseketariat bis zur Marokko-Krise. (1)

88 DAS GOLDENE BEIL 
genommen, der mir, als wir uns während meiner Tätigkeit als Botschaftsrat 
in St. Petersburg von 1884 bis 1888 nähertraten, manches auch über seinen 
damaligen Chef und dessen Auftreten erzählt hat. Als beide, Murawiew 
und Tscherewin, in Wilna ankamen, bestellte sich der Diktator für Mitter- 
nacht das übliche russische Souper, zu dem der Polizeipräsident von Wilna 
anzutreten hätte. Das Souper und der Polizeipräsident erschienen um die 
befoblene Zeit. Der Diktator verlangte die Liste der Verdächtigen, die 
ungefähr hundert Namen enthielt. Während er soupierte, bezeichnete 
Murawiew zwanzig Namen mit einem Kreuz, das er mit seinem Bleistift neben 
die Namen setzte. Schüchtern bemerkte der Polizeipräsident, die von Seiner 
hohen Exzellenz Angestrichenen und für den Galgen Bestimmten wären die 
am wenigsten Schuldigen. „Das ist gerade gut‘, antwortete Murawiew, 
„wenn das Urteil einschlägt wie der Blitz aus der Wolke, man weiß nicht, 
woher er kommt, und wo und warum er trifft, das erzeugt den größten 
Schrecken.“ Als dem Diktator am nächsten Tage gemeldet wurde, daß 
polnische Frauen die Gräber der Gehenkten mit Blumen geschmückt hätten, 
ließ er die Leichen ausgraben und auf den Exerzierplatz bringen, nur wenig 
mit Erde bedeckt. Dann mußten dort zwei Kosaken-Regimenter so lange 
exerzieren, bis aus den Leichen formlose Klumpen und Knochensplitter 
geworden waren. Die Antwort auf solche Greuel sollten ein halbes Jahr- 
hundert später die russische Revolution und der Bolschewismus geben. Das 
Hegelsche Gesetz von der Pendelschwingung trifft fast immer zu. Übrigens 
erregte die Brutalität des Diktators Murawiew schon zu seinen Lebzeiten bei 
edel Gesinnten Abscheu. Als Kaiser Alexander II. nach der Niederwerfung 
des litauischen Aufstands bei der Abendtafel fragte, welche Belohnung dem 
Grafen Murawiew zuteil werden könne, entgegnete ihm Fürst Suworow- 
Italijsky, der von 1848 bis 1861 den Östseeprovinzen ein milder General- 
gouverneur gewesen war: „Eure Majestät sollten Murawiew ein goldenes 
Beil verehren oder auch einen Miniatur-Galgen, auf der linken Brustseite 
neben anderen Medaillen zu tragen.“ Der Diktator Murawiew starb in voller 
Ungnade. Er hatte jenes tiefe Wort des Kaisers Alexander I. vergessen, der 
einmal zu einem übereifrigen Polizeiminister sagte: „Vergessen Sie nicht, 
daß die Fürsten zwar gelegentlich das Verbrechen lieben, aber selten 
diejenigen, die es ausführen.“ 
Der Minister des Äußern, Graf M. N. Murawiew, war kein Unmensch 
wie der Henker von Litauen, aber die Schwärmerei des unglücklichen 
Murawiew-Apostol lag ihm noch ferner. Er sah wie ein echter Russe aus, 
breitschultrig und grobschlächtig, mit wasserblauen Augen und stumpfer 
Nase, obwohl er eine deutsche, seine russischen Feinde und Neider be- 
haupteten eine deutsch-jüdische Mutter hatte, die, als sie älter wurde, sich 
aus dem kalt-feuchten St. Petersburg nach dem wärmeren Wiesbaden
	        
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