DAS KREUZ ÜBER BOSNIEN 91
wonach, wenn im Interesse der Ruhe des Orients und des europäischen
Friedens Österreich es für angezeigt halten sollte, die Okkupation in eine
Annexion zu verwandeln, Rußland dagegen keinen Anspruch erheben
würde. Die stille Voraussetzung hierbei wäre, daß Österreich gewissen
russischen Wünschen hinsichtlich der Durchfahrt durch die Dardanellen
kein schroffes Veto entgegensetzen würde. „Nous avons fait la croix sur
la Bosnie et ccla depuis longtemps.‘“‘ Natürlich dürfe Österreich nichts
Feindliches gegen Rußland auf der Balkanhalbinsel unternehmen. Ruß-
land sei und bleibe eine slawische und orthodoxe Macht. Es könne
nicht seiner ganzen Geschichte ins Gesicht schlagen. Übrigens stünde
Österreich auf der Balkanhalbinsel fast besser da als Rußland, das in
Belgrad wie in Sofia in keiner Weise prävaliere, von Rumänien gar nicht
zu reden.
Ein weiterer delikater Punkt wäre die polnische Frage. Österreich
müsse sich aller Agitationen unter den Polen des Königreichs, den russischen
Polen, enthalten. Er wisse wohl, daß Kaiser Franz Josef solche Wühlereien
mißbillige. Auch Goluchowski sei, obwohl Pole, ganz korrekt. Aber von
Galizien aus würde doch im Königreich Polen viel gewühlt und viel ge-
sündigt. Jedenfalls wäre zwischen Deutschland und Rußland der gemeinsame
Gegensatz gegen die polnische Irredenta nach wie vor ein sehr starkes
Bindeglied. Ich erinnerte Murawiew daran, daß wir einmal vor Jahren in
Paris zusammen einer polnischen Hochzeit beigewohnt hätten, der Heirat
zwischen Georg Radziwill und Bichette Branicka, bei der Russen, Polen
und Deutsche zugegen waren. Als wir von diesem Hochzeitsfest nach Hause
gegangen wären, habe er mich auf dem Boulevard des Italiens gefragt, was
die Polen mir gesagt hätten. Ich hätte wahrheitsgemäß geantwortet, sie
hätten mir mit großer Liebenswürdigkeit und polnischer Lebhaftigkeit
auseinandergesetzt, daß Deutsche und Polen, die beide zivilisierte Völker
wären, sich sehr wohl verstehen und lieben könnten, nicht aber die Polen die
barbarischen Russen. Er habe mir damals erwidert, ihm hätten die Polen,
Damen und Herren, gesagt, zwischen Polen und Russen, die beide Slawen
wären, bestünde kein unüberbrückbarer Gegensatz, den Deutschen aber
würde der Pole nie lieben können. Wir würden also sehr einfältig sein,
replizierte ich, wenn wir uns für die schönen Augen der Polen zerfleischen
wollten. Und die Balkanvölker verdienten auch nicht, daß ihretwegen das
Schicksal großer Reiche aufs Spiel gesetzt würde. Nicht lange vor dem
Berliner Kongreß habe mir, der ich damals junger Geschäfstträger in
Athen gewesen wäre, der griechische Minister des Äußern, als ich die
Friedensliebe und die Friedenswünsche des Fürsten Bismarck betont hätte,
mit feierlicher Miene geantwortet: „‚C’est bien, c’est bien, va.pour le prince
de Bismarck, mais moi je vous declare qu’une grande guerre europdenne
Die polnische
Frage