WITTES HEIRAT 97
anschläge gegen den Zaren eine Denkschrift, in der mit gesundem Menschen-
verstand und einem gewissen Mutterwitz Vorschläge für die Organisation
von umfassenden Maßnahmen zum Schutze der geheiligten Person des
Selbstherrschers gemacht wurden. Witte sandte diese Denkschrift an
seinen Onkel, den General Fadejew, nach Petersburg, und dieser wußte sie
zur Kenntnis des Großfürsten Wladimir zu bringen. Daraufhin bekam
Sergej Juliewitsch den Auftrag, nach Paris zu fahren, um die dortigen rus-
sischen Flüchtlinge zu überwachen. Er hat mir selbst später in amüsanter
Weise erzählt, wie er diese Mission vor allem benutzt hätte, um sich mit den
Freuden des Pariser Tag- und Nachtlebens vertraut zu machen, aber auch,
um seinen politischen Horizont zu erweitern. Er scheint gut berichtet zu
haben. Von da an war er en vue und avancierte rasch in dem Lande, von
dem (wieich anläßlich meiner Begegnung mit dem Reichssekretär Polowzew
im Juli 1884 erzähle) schon vor 150 Jahren ein französischer Beobachter
gesagt hatte, daß die Möglichkeit und Leichtigkeit, Karriere zu machen, das
zaristische Rußland vor einer allgemeinen Revolution bewahre. Als ich
Witte kennenlernte, befand er sich in jener Periode des Lebens, die für
einen ehrgeizigen Mann vielleicht die anziehendste ist.
„Wie groß war diese Welt gestaltet,
So lang die Knospe sie noch barg!“
Witte war 1897 noch nicht auf der Höhe angelangt, aber die Welt traute
ihm zu, daß er die Höhe erklimmen würde. Er war schon berühmt, man
drehte den Kopf nach dem Finanzminister um, und auch der Neid und der
Haß hatten sich eingestellt, die Begleiter, aber auch die sichersten Zeugen
des Erfolgs. Bei Kaiser Nikolaus stand Witte damals in hoher Gunst, ihr
gegenseitiges Verhältnis war noch durch nichts getrübt. Witte genoß auch
das Vertrauen der beiden für den russischen Kredit wichtigsten Bank-
häuser, des Hauses Rothschild in Paris und des Hauses Mendelssohn in
Berlin. Witte hatte nicht lange vor dem Besuch unseres Kaisers in Peterhof
einen großen persönlichen und gesellschaftlichen Erfolg erreicht. Er hatte
viele Jahre intime Beziehungen zu einer Dame der St. Petersburger Halb-
welt unterhalten, die Mathilde hieß. Als sie ihm eine Tochter schenkte,
heiratete er Mathilde, die allgemein für gutmütig galt und namentlich keine
Gelegenheit vorübergehen ließ, ihren großen Einfluß auf den Minister zum
Besten ihrer früheren zahlreichen Verehrer aus den beiden elegantesten
Regimentern der russischen Armee, den Gardes ä& cheval und den Cheva-
liers-Gardes, geltend zu machen, übrigens nur aus Gutmütigkeit, kostenfrei.
Nach längerem Sträuben von seiten der beiden Kaiserinnen war Frau Witte
auf Wunsch des Zaren von seiner Mutter wie von seiner Gemahlin empfan-
gen worden. Auf jenem Diner bei Fürst Radolin hatte ich eine längere
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