Full text: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Erster Band. Vom Staatsseketariat bis zur Marokko-Krise. (1)

DER WINTER DER BRAUTSCHAU 101 
Prinzessinnen der Fall gewesen war. Der erste Versuch war nicht geglückt. 
Die hessische Prinzessin gefiel damals dem Thronfolger nicht. Sie mußte 
unverrichteter Sache wieder abziehen. Der künftige Kaiser Nikolaus II. 
stand damals noch unter dem Einfluß einer schönen polnischen Tänzerin, 
die ihm, als er zum Jüngling herangereift war, zugeführt wurde, pour le 
deniaiser. Während des Winters der Brautschau hatten sich, sobald der 
Hofwind sich gegen die junge fremde Prinzessin zu drehen schien, die 
meisten von ihr zurückgezogen. Nur der Flügeladjutant, Graf Orlow, 
blieb gleich aufmerksam für sie. Als er sich vor ihrer Abreise von St. Peters- 
burg von ihr verabschiedete, schenkte sie ihm eine Blume und sagte ihm, 
sie würde scine Freundlichkeit nicht vergessen. Aus dieser völlig unschul- 
digen Bemerkung, die nur für das gute Herz der Prinzessin sprach, wurde 
später ein förmlicher Roman konstruiert und ihr nachgesagt, sie wäre in 
jenen Flügeladjutanten sterblich verliebt gewesen, das sei nach ihrer Ver- 
heiratung herausgekommen, Orlow wäre verbannt worden und habe im Aus- 
land Hand an sich selbst gelegt. Alles Märchen! Noch viel niederträchtiger 
sind die Verleumdungen gegen die Kaiserin Alexandra Feodorowna wegen 
anormaler Zuneigung zu Frauen. Auch hier handelt es sich nur um die Emp- 
findungen eines für Freundschaft im besten Sinne empfänglichen Herzens. 
Zu den Freundinnen ihrer ersten Jugendzeit gehörte eine Gräfin Rantzau, 
ein kränkliches, etwas verwachsenes Mädchen, aber herzensgut und das, 
was man einst eine „schöne Seele‘ nannte. Die Prinzessin Alix korrespon- 
dierte auch nach ihrer Verheiratung mit der jungen Komteß, und als 
letzere, die von Kindheit auf kränklich gewesen war, in frühen Jahren starb, 
scheute die Kaiserin von Rußland bei ihrer ersten Reise nach Darmstadt 
nicht den Umweg über Kiel, um am Grabe der armen Freundin Blumen 
niederzulegen. 
Die Kaiserin Alexandra Feodorowna verdankte ihre Heirat, die längere 
Zeit unsicher geworden war, am letzten Ende der Initiative ihres Vetters, 
des Kaisers Wilhelm. In Koburg war anläßlich der Vermählung der Prinzeß 
Viktoria mit dem Großherzog Ernst Ludwig von Hessen eine große Fa- 
milienzusammenkunft gewesen. Zu den Hochzeitsfeierlichkeiten hatte sich 
auch die Schwester des Bräutigams, die Prinzessin Alix, eingefunden. Aber 
auch ihr leiblicher Vetter Wilhelm II. und Kaiser Nikolaus von Rußland, 
der ein Neffe der Herzogin-Mutter von Koburg war, wohnten der Einseg- 
nung jener von der gemeinsamen Großmutter, der Königin Victoria, arran- 
gierten oder richtiger gesagt befohlenen Verbindung zwischen den Häusern 
Wettin und Hessen bei, die wenig glücklich werden sollte. Nachdem sich 
im alten Schloß Ehrenburg während einiger Stunden Prinzessin Alix und 
der russische Thronerbe nicht ohne Verlegenheit gegenübergestanden 
hatten, nahm Kaiser Wilhelm letzteren in seiner frischen und zugreifenden
	        
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