Full text: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Erster Band. Vom Staatsseketariat bis zur Marokko-Krise. (1)

114 DIE SÄULE DER UNGNADE 
ohne Schärfe ausgetragene Mei hiedenheiten über Maß und 
Umfang unserer Schiffsbauten zwischen mir und Tirpitz nichts geändert. 
Jedenfalls flöße er mir mehr Vertrauen ein als mancher andere, der mit 
dem Munde Größeres leiste als Tirpitz, aber weniger mit der Hand und noch 
weniger mit dem Kopf. Gereizt durch diese Anspielung auf einen von ihm 
bevorzugten, Tirpitz feindlich gesinnten Admiral, der wahrscheinlich gegen 
den Staatssekretär gehetzt hatte, replizierte der Kaiser ziemlich erregt: 
„Sie wollen mich nicht genötigt haben, Tirpitz zu behalten ? Mit geballter 
Faust haben Sie mich dazu gezwungen.“ Ich hatte es mir zur Regel ge- 
macht, um so ruhiger zu bleiben, je lebhafter der Kaiser wurde. Ich er- 
widerte also respektvoll, aber bestimmt: Es sei wobl möglich, daß ich Seiner 
Majestät gelegentlich in der Diskussion zu lebhaft widersprochen hätte. 
Auch hätte ich den Fehler, den meine Frau mir gelegentlich vorhielte, 
daß ich in der Konversation anderen ins Wort fiele. Aber eine derartig un- 
ziemliche Haltung, wie sie der Kaiser mir vorwürfe, sei nicht meine Art. 
Der Kaiser drehte sich um, schüttelte mir die Hand und ging lachend weiter. 
Er hatte eine ungewöhnliche Gabe, im persönlichen Verkehr Entgleisungen 
wieder einzurenken und Verstöße wiedergutzumachen. Er war auf die 
Länge etwas ermüdend, aber schr gutherzig, und vor allem die Natür- 
lichkeit selbst. Das war doppelt angenehm in einem Lande, wo leider nicht 
wenige unnatürliche, steife und gezierte Menschen herumlaufen. 
Nach meinem Rücktritt haben die Beziehungen zwischen dem Kaiser 
und Tirpitz noch manche ‚ups‘ und ‚downs‘ durchgemacht. Nicht lange vor 
dem Weltkrieg äußerte der Kaiser zu einem mir befreundeten Bundesrats- 
vertreter: „Ein Tirpitz ist zehn Bethmänner wert.“ Im Weltkrieg trübte 
sich das Verhältnis immer mehr, und schließlich wurde Tirpitz nach fast 
zwanzigjähriger Ministertätigkeit in vollster Ungnade entlassen, weil sein 
Verhältnis zum Kaiser, wie der Admiral aus der Umgebung Seiner Majestät 
hörte, „als unwiederherstellbar‘‘ betrachtet wurde. Tirpitz war nicht der 
einzige Minister Wilhelms II., dem dieses Schicksal widerfuhr. Prinz Hein- 
rich von Preußen, der Bruder Friedrichs des Großen, errichtete im Schloß- 
park von Rheinsberg eine Säule, auf die er die Namen derjenigen ein- 
gravieren ließ, die von seinem Bruder, dem König, nach der Ansicht des 
Prinzen ungerecht behandelt worden waren. Wenn für die Opfer der Un- 
gnade Wilhelms II. eine Säule errichtet werden sollte, so würde sie noch 
viel mehr Namen tragen. An der Spitze stünde der große Name des Fürsten 
Bismarck; die Namen von Caprivi, von Waldersee, von Miquel, von Tirpitz, 
von Bronsart von Schellendorf, unserem besten Kriegsminister seit Roon, 
von Ludendorff, von manchen anderen würden folgen, und auch mein 
Name würde nicht fehlen dürfen. Wir alle sind von Wilhelm II. teils vor- 
übergehend, teils dauernd als „Verräter“ bezeichnet worden, obwohl es in 
 
	        
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